Berliner Tagebuch: „Bleib tapfer“
■ Berlin vor der Befreiung: 24. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Die Kriminalpolizei hat angerufen. (Anm.: Nach einem Bombenangriff ist im Haus Ihnestraße 20 die Leiche einer Untergetauchten mit falschen Papieren gefunden worden.) Ich möge sofort zur Schadensstelle kommen. Die eine der „Gefallenen“ sei geborgen worden. Heute nachmittag um halb fünf. Ich radele los. „Bleib tapfer“, ruft Frank mir nach.
Es gibt viel Grund, um tapfer zu bleiben. Unter der alten Ulme liegt ein armseliges Häuflein. Mit Wellpappe zugedeckt. Ich schlage das Papier zurück. Ich sehe ein Gewirr dunkler Haare, zwei Hände wie im Schreck vor das Gesicht geschlagen. Das Gesicht selber – eine unkenntliche Masse von Blut, Staub, Dreck und Matsch. „Man hat eine Tasche bei der Toten gefunden“, sagt ein Mann neben mir. „Eine lederne Handtasche. Die Kriminalpolizei hat sie beschlagnahmt. Es war eine Anmeldung darin. Helga Seidler, Flüchtling aus Guben. Angemeldet bei Frau Gerichter, Bleibtreustraße 46.“ Da haben wir die Bescherung! „Kennen Sie diese Helga Seidler?“ erkundigt sich der Mann. „Es sind Bilder vorhanden. Fünfundzwanzig Photos. Vielleicht läßt sich nachweisen ...“ Mir wird übel, wenn ich an diesen Nachweis denke. „Ich habe keine Ahnung“, sage ich. „Ich kenne Fräulein Reubers Freundin nicht. Und ich weiß weder, wie sie heißt, noch wo sie gemeldet war.“ Aber der Mann läßt nicht locker. „Die Menschen sagen, sie hieße Fräulein Dohm. Und auf der Anmeldung steht Helga Seidler. Da stimmt doch was nicht. Da ist doch was nicht sauber. Na, wir werden schon dahinterkommen.“ Im Vollgefühl seiner Wichtigkeit schreitet er von dannen. Gestapo-Spitzel, denke ich. Gottlob, daß er so dämlich ist!
Ein Krankenauto fährt vor. Zwei Männer steigen aus. Sie laden das, was von Ursel Reuber übrig blieb, auf eine Bahre. „Wohin?“ frage ich. „Nach Friedhof Onkel Tom.“ Der Wagen rollt davon. Also auf nach Onkel Tom. Ruth Andreas-Friedrich
„Der Schattenmann“. Suhrkamp Verlag (Frankfurt a.M.) 1984 Tagebuchaufzeichnungen von 1938 bis 1945 und „Schauplatz Berlin“, Suhrkamp 1984, Tagebuchaufzeichnungen von 1945 bis 1948.
Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977), Journalistin, Mitglied einer Widerstandsgruppe, die untergetauchte Juden versteckte.
Recherche: Jürgen Karwelat
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