: Argentinische Wunden brechen auf
■ Wo sind die Listen der Opfer der Diktatur? Nach einer Gerichtsanordnung weiß die Regierung plötzlich viel mehr
Buenos Aires (AFP/dpa/taz) – Die argentinische Regierung gerät wegen der zögerlichen Aufklärung von Verbrechen der Militärdiktatur unter Druck. Innenminister Carlos Corach bestätigte gestern, daß der Regierung eine Liste mit den Namen von 1.000 bisher nicht bekannten Opfern der Militärs vorliegt. Sie sollten demnächst veröffentlicht werden. Noch am Donnerstag hatte Präsident Carlos Menem zwar die Offenlegung eines geheimen Dekrets angeordnet, in dem die zwischen 1976 und 1983 herrschenden Militärs die Vernichtung aller Dokumente im Zusammenhang mit Menschenrechtsverstößen verfügt hatten, jedoch erklärt, das Dekret enthalte keine Listen mit den Namen der Menschen, die während der Militärdiktatur verschwanden und ermordet wurden. Seine Regierung würde die Listen veröffentlichen, wenn sie existierten, hatte der Präsident versichert. Die „Mütter der Plaza de Mayo“ hatten am Donnerstag bei einer Demonstration ein Verzeichnis mit den „Namen der Mörder“ gefordert; ihre Kundgebung wurde von der Polizei gewaltsam aufgelöst.
Gestern war der 19. Jahrestag des Militärputsches vom 24. März 1976. Menschenrechtsorganisationen zufolge sind danach bis zu 30.000 Menschen dem „schmutzigen Krieg“ der Militärs zum Opfer gefallen. 1984 hatte eine Kommission unter Leitung des Schriftstellers Ernesto Sabato aber lediglich die Namen von 8.960 Verschwundenen ermittelt. Die neue Liste erhöht nun die Zahl der bekannten Opfer auf fast 10.000.
Die neue Diskussion um Argentiniens Vergangenheit war am Montag ausgebrochen, als die Justiz von der Regierung vollständige Listen der während der Militärdiktatur verschwundenen und ermordeten Menschen gefordert hatte. Die Richter hatten beschlossen, trotz der 1990 von Menem ausgesprochenen Amnestie für Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur den Fall von zwei 1977 verschwundenen französischen Nonnen weiterzuverfolgen. Der frühere Marineoffizier Alberto Scilingo hatte zugegeben, an Flügen beteiligt gewesen zu sein, bei denen Gefangene in den Atlantik geworfen wurden. Dies sei mit Wissen führender Geistlicher geschehen. Scillingo sprach von 1.500 bis 4.000 Menschen, die auf diese Weise aus der Technischen Marineschule in Buenos Aires „verlegt“ wurden, und forderte die Marineführung auf, die Namen der in der Marineschule Festgehaltenen herauszugeben. Wenig später gab ein Bundesgericht einem entsprechenden Antrag des Rechtsanwalts, der die Familien der Nonnen vertritt, statt.
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