: Lebendiger Beweis für Erinnerung
Mit viel Prominenz wurde am Sonnabend ein Gedenkraum für ermordete Sinti und Roma im ehemaligen KZ Ravensbrück eröffnet / „Über vieles kann ich bis heute nicht sprechen“ ■ Aus Ravensbrück Thorsten Schmitz
Else Baker hat die „Hölle auf Erden“ kennengelernt. Das wurde ihr aber erst klar, als sie längst erwachsen war. Vor kurzem feierte sie in London ihren 59. Geburtstag, es hätte auch ihr 80. sein können. Die Hölle hat das Gesicht der groß gewachsenen Frau mit dem goldblonden Haar gezeichnet. Tiefe Falten ziehen sich um ihre Lippen und Wangen und hinauf zur Stirn. Sorgenlider haben ihre Augen eingeengt.
Noch heute wird Else Baker von Alpträumen heimgesucht. Einer kehrt immer wieder: Sie steht in Hamburg unter dem Rathausportal, neben ihr Menschen, die sie auffordern, irgendwohin mitzukommen. Baker kann die Menschen nicht begleiten, weil doch der ganze Boden voller Leichen ist. Die Menschen aber sehen die Leichen nicht, so laufen sie „mit ihren hochhackigen Schuhen“ einfach über die Leichen. Manchmal, sagt Baker, lähme sie die Erinnerung.
Von Mai bis September 1944 erlebte Else Baker als Achtjährige die Hölle von Auschwitz und Ravensbrück, weil ihre Mutter, die sie nie gesehen hat, von den Nationalsozialisten als „Halbzigeunerin“ klassifiziert worden war. In Auschwitz ritzte man Else Baker außer der Nummer ein „Z“ in den Unterarm – für „Zigeuner“.
Bis 1963 hat Baker mit keinem Menschen über den Horror in Auschwitz und Ravensbrück geredet. Die Zeit dort hatte ihr die Sprache geraubt, das Land der Täter erst recht. Sie zog nach England, und kommt immer nur dann zurück nach Deutschland, wenn sie Zeugnis ablegt von ihren traumatischen Erlebnissen. Am Samstag nachmittag wurde im Zellentrakt des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück ein Gedenkraum für die dort ermordeten Sinti und Roma eingeweiht – Else Baker war die heimliche Schirmherrin der Veranstaltung, sozusagen der überlebende Beweis für Erinnerung.
Viel Prominenz hatte sich auf den Weg ins 90 Kilometer von Berlin entfernte Ravensbrück aufgemacht, darunter auch Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD). Er erinnerte in seiner kurzen Rede an „die Opfer der Hitlerbarbarei, die gelegentlich in Vergessenheit geraten“, monierte, daß bis heute Sinti und Roma keinen Minderheitenstatus zuerkannt bekommen haben und noch immer keine zentrale Mahn- und Gedenkstätte an ihr Schicksal erinnert – und Stolpe zog zugleich die Notbremse, denn er sehe die Gefahr einer gewissen Abstumpfung angesichts der zahlreichen Gedenkfeiern in diesem Jahr.
500.000 Sinti und Roma wurden einfach so getötet, nach nationalsozialistischem Diktum waren sie „asoziale“ und „primitive“ Menschen. Am 16. Dezember 1938 ordnete der „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, die „Regelung der Zigeunerfrage“ an, ab 1942 kasernierte man sie in Konzentrationslager. Nasen, Ohren, Köpfe und Füße von Sinti und Roma wurden für pseudowissenschaftliche Zwecke vermessen. „Ärzte“ wie Josef Mengele injizierten ihnen Viren, sterilisierten Mädchen ohne Betäubung. Heute leben schätzungsweise noch 70.000 Sinti und Roma in Deutschland.
Romani Rose, Zentralratsvorsitzender der deutschen Sinti und Roma, erwähnte in Ravensbrück, daß es keine Familie „unter unseren Menschen gibt, die im Dritten Reich nicht den Verlust von Angehörigen zu beklagen hätte“. Das KZ sei eines der Zentren der NS- Vernichtungspolitik „gegenüber unserer Minderheit“ gewesen, die ersten Deportationen seien im Juni 1939 erfolgt, als Sinti- und Romafrauen mit ihren Kindern aus dem Burgenland nach Ravensbrück verschleppt wurden, wo sie in SS-Betrieben Zwangsarbeit leisten mußten.
Der Gedenkraum im Untergeschoß des Zellenbaus komplettiert eine ganze Reihe von Trauerräumen, die an das Leid verschiedener Nationen erinnern. Zu DDR-Zeiten kam das Schicksal der nach Ravensbrück deportierten Sinti und Roma so gut wie gar nicht vor. Jetzt existiert dieses Manko nicht mehr. Drei mannshohe Tafeln halten die Erinnerung fest, in Deutsch, Englisch und Romanis. Fünf Frauenporträts dokumentieren gerahmt fünf unfaßbare Schicksale in Ravensbrück. Die elegante Schlichtheit, die der Raum ausstrahlt, wird allein getrübt durch kalte und häßliche Halogenpunktstrahler, wie sie in jedem Café von der Decke baumeln.
Die Lebens- und Leidensgeschichte von Else Baker wird in dem Raum nicht dokumentiert. Womöglich, weil sie die furchtbarsten Erlebnisse noch immer für sich behält: „Über vieles, was in Ravensbrück geschehen ist, kann ich bis heute nicht sprechen.“
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