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Was wirklich im Nordirak passiert, berichten Augenzeugen der taz: Die Attacke aus Ankara richte sich nicht primär gegen die PKK, sondern gegen irakische und türkische Kurden, die seit Jahren in dem Autonomiegebiet leben Von Thomas Dreger

„Jagd auf die Bevölkerung“

„Sie haben die Häuser durchsucht, Geld, Gold und andere Wertgegenstände mitgenommen“, erzählt Khalida*. Wer sich den türkischen Soldaten widersetzt habe, „wurde erschossen. Ich habe gesehen, wie eine Mutter und ihr Kind von türkischen Soldaten erschossen wurden.“

Die irakische Kurdin hat im Nordirak Dinge erlebt, die nicht zu dem von türkischen Militärs gezeichneten Bild eines Krieges gegen die PKK passen. Bei der Reise aus dem Nordirak in die Türkei traf Khalida in Sacho auf türkische Soldaten. Laut ihrem Bericht richtet sich der türkische Angriff nicht primär gegen Kämpfer der PKK, sondern gegen irakische und türkische Kurden, die seit Jahren als Zivilisten in der Gegend wohnen. Türkische Soldaten verfolgten gezielt aus der Türkei in den Norden Iraks geflüchtete Kurden. Weitere Opfer seien irakische Kurden, die sich den Direktiven der türkischen Offiziere widersetzten. So seien auch zahlreiche Peschmerga der KDP – jener irakisch-kurdischen Partei, die die Grenzregion kontrolliert – von türkischen Soldaten erschossen worden, weil sich weigerten, ihre Waffen abzugeben.

Die Gesellschaft für Bedrohte Völker berichtete Anfang der Woche unter Berufung auf Repräsentanten der im Nordirak lebenden Assyrer von „regelrechten Hetzjagden“ der türkischen Soldaten „auf Menschen, die unter geringstem Verdacht stehen, mit der PKK zu sympathisieren“. In Sacho machten Angehörige der militärischen Staatssicherheit (MIT) „Jagd auf die Bevölkerung“.

Die Attacken der türkischen Soldaten richten sich offenbar auch gezielt gegen Lager von aus der Türkei in den Norden Iraks geflohenen Kurden. Am Sonntag evakuierte das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) 1.500 solcher türkischer Kurden aus dem Kampfgebiet in das 160 Kilometer südlich gelegen Atrusch. Nach Informationen der taz bombardierten anschließend türkische Truppen die Region. Etwa 200 Flüchtlinge sollen dabei getötet, die Überlebenden in die Türkei verschleppt worden sein.

Dagegen scheint die PKK wenig von der Invasion betroffen zu sein. Das türkische Militär nahm sich mehrere Wochen Zeit, um seine Panzer und Truppen entlang der Grenze zum Irak aufmarschieren zu lassen. Aus den irakischen Bergen konnte die Guerilla beobachten, was sich dort zusammenbraute, und zog Konsequenzen: Anstatt auf den Angriff des Gegners zu warten, zogen sich die PKKler in den sicheren Süden zurück.

„Die Offensive richtet sich vielleicht zu zehn Prozent gegen die PKK, zu 90 Prozent hat sie andere politische Ziele“, meint ein Vertreter der „Patriotischen Union Kurdistans“ (PUK), einer der irakisch- kurdischen Parteien, die seit dem Ende des zweiten Golfkrieges versuchen, den Norden Iraks zu regieren. Das Experiment eines solchen unabhängigen Kurdistans gilt praktisch als gescheitert. Seit Mai vergangenen Jahres liefern sich Kämpfer der PUK und der mit ihr rivalisierenden „Demokratischen Partei Kurdistans“ (KDP) blutige Kämpfe. Arbil, die Hauptstadt der Region und Sitz eines kurdischen Parlaments, ist seit Dezember umkämpft. Ein angesichts der türkischen Invasion vereinbarter Waffenstillstand scheiterte. Seit dem Wochenende schießen im Nordirak auch wieder irakische Kurden auf irakische Kurden.

Das brüchige Autonomiegebiet bildet auch die militärische Basis des „Irakischen Nationalkongresses“ (INC). Das 1992 gegründete Oppositionsbündnis ist ein Versuch, die politisch, religiös und ethnisch zersplitterten Gegner Saddam Husseins zu einen. Bisher galt der INC als von westlichen Geheimdiensten unterstützter, aber im Irak einflußloser Verein. Wie um das Gegenteil unter Beweis zu stellen, begannen INC-Kämpfer und Peschmerga der PUK Anfang März Angriffe auf irakische Truppen in der Gegend von Kirkuk. Am 20. und 23. März meldete der INC Siege über irakische Truppen südlich und nördlich der wegen ihres Ölreichtums begehrten Stadt. Nach Berichten der PUK gelang es den Oppositionellen, binnen weniger Tage 36 irakische Panzer zu erbeuten. Mehrere hundert Mitglieder der einst bestausgerüsteten Armee eines arabischen Staate ergaben sich den bunt zusammengewürfelten INClern. Mehrere Offiziere wechselten zur Opposition.

KDP-Chef Massud Barsani, der sich zu Beginn der INC-Offensive in der Türkei aufhielt, spielte diese herunter. Kanaan Makiya, ein in den USA lebender INC-Aktivist und unter dem Pseudonym Samir al-Khalil bekannt gewordener Buchautor, weiß zu berichten, daß der INC zuvor wiederholt bei Barsani um Unterstützung für den Angriff gebeten habe. Gemeinsam mit der Peschmerga der KDP hätten die Oppositionellen „sogar Mossul einnehmen können“, meint Makiya. Die Eroberung dieser größten Stadt des Nordirak wäre „eine kleine Herausforderung und ein symbolischer Akt gewesen“. So groß, daß die in der Türkei stationierten US-Truppen „vielleicht sogar Luftunterstützung gegeben hätten“. Beobachter gehen davon aus, daß der INC von der US-Regierung ermuntert wurde, die irakische Armee anzugreifen. Durch militärische Nadelstiche sollte die Kampfkraft und Motivation der Truppen Saddam Husseins erprobt werden. Die türkische Regierung warnte den INC vor den Angriffen. Am 15. März sagte der Sprecher des türkischen Außenministeriums Ferhat Ataman: „Ich möchte betonen, daß die Türkei solche Entwicklungen, die die territoriale Integrität des Irak verletzten, in keiner Weise akzeptieren wird.“ Fünf Tage später marschierten türkische Soldaten im Norden Iraks ein. „Die Situation ist beschissen und sie wird jeden Tag beschissener“, kommentiert Kanaan Makiya die Ereignisse. Derzeit habe „jeder seine Hand im Spiel, sogar die Iraner“. Wenn die türkische Invasion tatsächlich nicht der PKK, sondern der irakischen Opposition gelte, dann dränge sich der Verdacht auf, „daß Massud Barsani mit den Türken kooperiert“. Für diese Vermutung sprechen Berichte, wonach zumindest in den ersten Tagen der Invasion türkische Soldaten gemeinsam mit Peschmerga der KDP durch Sacho patrouilliert sein sollen. Dagegen sprechen Informationen, daß KDP-Mitglieder, die sich weigerten, ihre Waffen abzugeben, von türkischen Soldaten erschossen wurden.

Sollte Barsani wirklich mit den türkischen Besatzern kollaborieren, würde der KDP-Chef, der selbst zur Führung des INC gehört, der irakischen Opposition in den Rücken fallen. Die türkische Regierung ist bemüht, Saddam Hussein zu stärken. Seit Monaten lösen sich in Bagdad türkische Delegationen ab. Sie verhandeln und schließen Verträge ab, die an jenem Tag in Kraft treten werden, an dem der UN-Sicherheitsrat eine Lockerung des seit der irakischen Invasion Kuwaits 1990 geltenden Embargos beschließt. Ginge es nach Ankara, würden die türkischen Truppen im Norden Iraks irgendwann von regulären irakischen Truppen ersetzt. Der UN-Sicherheitsrat müßte die alle zwei Monate verlängerten Sanktionen lockern. Irakische und türkische Techniker würden die von Kirkuk durch den Nordirak in die Türkei führende Ölpipeline wieder in Betrieb nehmen.

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