piwik no script img

Modernes Zensuswahlrecht?

■ betr.: Interview mit Heidi Schüller, „Der Jugend eine Chance“, taz vom 22.3. 95

Allein in meinem familiären Umfeld würde die Umsetzung der Ideen von Heidi Schüller zu kuriosen Ergebnissen führen:

Mein Opa (83, geistig fit) dürfte zukünftig also nicht mehr wählen. Dafür bekäme jedoch mein Cousin (26, grenzdebiler Nintendo-Süchtiger) zwei Stimmen, denn er ist ja jung, und mein Bruder (30) bekäme sogar drei Stimmen, weil er jüngst eine Kleinfamilie gegründet hat und damit – folgt man Heidi Schüller – besondere Wahlweisen erhalten sollte. Ich selbst würde leider wohl höchstens ein halbes Stimmrecht haben, denn ich gehöre als momentan arbeitsloser Mensch ja auch einer Problemgruppe an.

Damit jedoch nicht genug: Mein Onkel würde mindestens zehn Stimmen in Anspruch nehmen wollen: Immerhin ist er mittelständischer Unternehmer und als solcher ja wohl in besonderem Maße stimmberechtigt. Erwähnenswert ist auch seine Frau: Aufgrund ihrer Bettlägerigkeit hätte man ihr kurzfristig das Wahlrecht aberkennen müssen, wobei ihr eine regelmäßige Prüfung durch den Wahl- TÜV („Laufen Sie uns mal was vor, gnädige Frau“) durchaus die Chance auf Wiedererlangung ihrer Bürgerrechte eröffnen würde.

Ganz chancenlos wäre jedoch Heidi Schüller: Wer seine wirren Gedanken noch damit untermauert, daß auch „Salzsäureattacken sie nicht davon abhalten“, weiterhin diesen undemokratischen Unsinn zu verzapfen, der sollte allerdings wirklich vom Wahl-TÜV kaltgestellt werden! [...] Frank Thomas, Berlin

Heidi Schüller, die Aufklärerin der debilen Volksmassen, trägt das revolutionäre Leuchtelicht hinter die Finsternis der „Alterslüge“ – nur die vergreisten Omis und Opas sehen diese Leuchte nicht, weil sie mit Grün-Grauem Star in ihren Sparstrumpf glotzen und Ausschau nach ihrer Rente halten. [...]

In einem Land, in welchem die Träger faschistischen Gedankenguts täglich immer kecker die öffentliche Plattform besteigen, sind solche geistlosen Entgleisungen nicht länger kommentarlos hinzunehmen.

Heidi Schüller sieht eine Hetzkampagne gegen sich – falsch! Das Gedankengut, welches sie verbreitet, ist die eigentliche Hetzkampagne. Wer Menschen in der BRD in ihren ohnehin schon spärlichen demokratischen Grundrechten beschneiden will, dazu noch mit so billigen und primitiven Sprechblasen, der hat sich längst aus jeder vernünftigen Diskussion verabschiedet.

[...] Frau Schüller, nehmen Sie's nicht persönlich, aber ich wünsche Ihnen ein langes, langes Leben! Michael Schwarz, 29 Jahre,

München

Der Gedanke, Menschen aufgrund ihres hohen Alters das Wahlrecht abzuerkennen, steht in der Tradition der Diskriminierung von Minderheiten wegen ihrer angeblichen „Minderwertigkeit“.

Die von Heidi Schüller angeführten Beispiele vermitteln ein Zerrbild: Alte Menschen arbeiten nichts, kosten viel Geld und sind verblödet.

Die Aberkennung des Wahlrechts wäre sicher nur der erste Schritt, um solche Menschen aus der Gemeinschaft auszugrenzen. Schüller vertritt hier faschistoides Gedankengut im modernen Gewand. Da sie die ökonomische Rationalität auf ihrer Seite hat, stellen ihre Aussagen eine massenwirksame Bedrohung für die Humanität dieser Gesellschaft dar. Harald Richter, Bielefeld

Großartiges Szenario, Frau Schüller, erinnert mich an die Bundestagswahl 1976. Ich – 16 und politisch interessiert – hätte das Wahlrecht benötigt, meine Oma – 67 und bettlägerig nach dem vierten Schlaganfall, aber geistig total rege – wollte die KPD wählen, leider funkte Mama als ihre Pflegerin dazwischen, da sie die Post entgegennahm und ihr den Wahlschein nicht aushändigte. Könnte ja jeder Greis linksradikal wählen, oder?

Frau Schüller, Sie ziehen sich während des ganzen Interviews zurück und kommen erst dann zur Sache, als die taz mehrmals und nachdrücklich nachfragt. [...] Angesichts dessen, daß wir wahrscheinlich allesamt ziemlich alt werden, sind Ihre Theorien widerlicher Zynismus. Ich weiß ja nun nicht, wie es bei mir sein wird, falls ich 90 Jahre auf dem Buckel habe, aber ich werde mich vielleicht verzweifelt an das Leben klammern und darauf bestehen, eine neue Leber statt meiner alten versoffenen, eine neue Lunge statt meiner ausgedienten verqualmten und heiser gegröhlten und ein neues Herz statt meines liebes- und leidgeprüften zu bekommen. Ich weiß es nicht und werde mir deshalb nie anmaßen, darüber zu richten, in welchem Alter Organtransplantationen zulässig sind. Sie unterstützen den Trend zur Zwei-Klassen- Medizin, indem Sie statt der Armen die Alten ausgrenzen. [...]

Frau Schüller, Sie sprechen von Freundschaftsdiensten, die wir uns untereinander erweisen sollen. Haben Sie diese Freundschaftsdienste schon geleistet? Haben Sie schon einmal auf einen pflegebedürftigen alten Menschen aufgepaßt, damit sein/ihr Kind – meistens die Tochter – ausgehen kann? Frau Schüller, diese Freundschaftsdienste sind unbezahlte Arbeit, die meistens von uns Frauen geleistet wird! Frau Schüller, Sie müßten im Rahmen dieser sogenannten Freundschaftsdienste vielleicht drei Stunden am Tag, vielleicht auch einmal einen ganzen Tag auf eine pflegebedürftige Person aufpassen, kochen, den Arsch putzen und vieles mehr. Wären Sie im Rahmen der Freundschaft dazu bereit?

[...] Sie sprechen von gesellschaftlicher Verantwortung, von Menschen, die aus dem Arbeitsleben entlassen werden und dann die Funktion von Zivis übernehmen sollen. Die schlecht bezahlte Arbeit, die die Zivis heute machen, um Pflegepersonal einzusparen, ist gewiß genau das, was ausgegrenzte Arbeitnehmer sich wünschen. Nochmals die Frage: Sind Sie bereit, anderen den Arsch zu putzen? Sind Sie bereit, PatientInnen zu heben, die schwerer als Sie selber sind? Vor allem das Letztere wird lustig, wenn Sie wegen Rückenschmerzen aus dem Arbeitsleben ausscheiden mußten. Gesellschaftliche Verantwortung? Die beginnt bei einem selbst, die beginnt, wenn ich mir Ihr Geseiere anhören und darauf antworten muß. [...]

Natürlich haben Sie recht, wenn Sie von der Überalterung in den großen Parteien sprechen, aber das heißt doch noch lange nicht, daß jeder über 60 ein Trottel und jeder über 70 ein alter Nazi ist, und Sie haben auch ganz recht, wenn Sie das Wahlrecht für Sechzehnjährige fordern, nur ist Ihre Forderung daran gekoppelt, daß im Falle, daß diese nicht erfüllt wird, „junge Familien“ beziehungsweise „junge Lebensgemeinschaften“ eine stärkere Gewichtung bekommen sollen. [...] Bei Ihren Forderungen kommen doch die zu kurz, die sich für ein Singledasein oder ein freiwillig kinderloses Dasein entschieden haben, und bei der heutigen miesen Wirtschaftslage sind wohl gerade die von ihnen favorisierten „jungen Familien“ eher rechtsradikal zu beeinflussen als ein Frührentner. Sie können keinem Menschen aufgrund seines Alters das Wahlrecht nehmen, Sie können höchstens eine Demokratisierung der gesamten Gesellschaft befürworten. Aber was Sie betreiben, ist eine abscheuliche Ausgrenzung. [...] Kerstin Witt, Berlin

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen