: „Worauf sollen wir noch warten?“
Streik legt das öffentliche Leben in Frankreich lahm / Dreieinhalb Wochen vor den Präsidentschaftswahlen Proteste gegen Privatisierung und Arbeitsplatzabbau ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Die Regel galt seit Anbeginn der V. Republik: Vor Präsidentschaftswahlen herrscht soziale Waffenruhe, und wenn der Neue im Elysee-Palast feststeht, beginnt der „dritte Wahlgang“, die Lohnverhandlungen. Gestern wurde sie erstmals gebrochen. Ein Streik legte das öffentliche Leben in Frankreich lahm – und bis zur Wahl des Staatschefs sind es nur noch dreieinhalb Wochen.
Beschäftigte von Verkehrsbetrieben und der Post legten im ganzen Land die Arbeit nieder. In Paris und in anderen Großstädten ging so gut wie nichts mehr. In der Hauptstadt fuhren nur 30 Prozent der Busse und kaum U-Bahnen. Nur jeder zweite vorgesehene Flug mit der Gesellschaft „Air Inter“ konnte starten, es waren ganz wenige Züge unterwegs. Wer seine Post bekam, hatte Glück.
Der Streik war völlig chaotisch, keine der zahlreichen Gewerkschaften hielt die Fäden in der Hand. Ob Züge oder Busse fuhren, hing einzig von der Entscheidung des Personals ab. Während die Fahrer der Pariser Vorortbahn B geschlossen in den Streik traten, verkehrten auf anderen Linien in unregelmäßigen Abständen Bahnen, deren Fahrer die „Nutzer nicht schädigen wollten“. Wo immer zur morgendlichen Hauptverkehrszeit Züge einfuhren, gab es auf den Bahnsteigen einen Tumult.
In jeder Station mußten die Züge minutenlang warten, bis sich alle Passagiere mit eingezogenen Bäuchen ineinandergedrängelt hatten und die Schiebetüren geschlossen werden konnten. An den großen Zufahrtsstraßen nach Paris bildeten sich spontan Mitfahrgemeinschaften, die dann Stunden gemeinsam im Stau verbrachten, und ungewöhnlich viele Hauptstädter stiegen auf Fahrrad oder Rollschuhe um.
Die Forderung nach Lohnerhöhungen, die den Reallohnverlust der letzten Jahre ausgleichen würden, stand bei dem Streik keinesfalls im Mittelpunkt. Viel wichtiger ist es den Streikenden, die Privatisierung, Umstrukturierung und den Arbeitsplatzabbau in ihren Unternehmen zu verhindern.
So ist bei der „Air Inter“ die Entlassung von 600 Mitarbeitern und die Fusionierung mit der „Air France“ geplant.
Und die französische Eisenbahngesellschaft SNCF soll zerstückelt werden – selbst die angesichts ihrer Privilegien bislang abseits jedes Arbeitskampfes gebliebenen Fahrer der Hochgeschwindigkeitszüge TGV schlossen sich dem gestrigen Streik mehrheitlich an.
Allmählich ist den Franzosen klar, daß die Präsidentschaftswahlen zu einem Duell zwischen den beiden konservativen Kandidaten aus der selben, neogaullistischen Partei RPR werden: Edouard Balladur und Jacques Chirac. Ihre Politikvorstellungen sind nicht weit voneinander entfernt – auch nicht im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Da lag es nahe, den Streik nicht auf die Zeit nach den Wahlen zu verschieben. Motto: „Wenn wir eh nichts zu erwarten haben, warum sollen wir abwarten?“ Im französischen Privatsektor, wo gegenwärtig viel von einer „Erholung“ der Wirtschaft die Rede ist, aber die Reallöhne weiter sinken, war die Streikbeteiligung gestern minimal. Selbst der Chef des Arbeitgeberverbandes CNPF, Jean Gandois, nannte die Verweigerung von Lohnerhöhungen in funktionierenden Unternehmen vor einigen Tagen eine „Provokation“.
Die Zurückhaltung der dort beschäftigten Arbeiter hat viel mit ihrem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad zu tun. Nur noch acht Prozent der im Privatsektor tätigen Franzosen sind gewerkschaftlich organisiert, gegenüber immerhin 26 Prozent im öffentlichen Sektor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen