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Läuse im Weltall Von Mathias Bröckers

Wir sind die Erde. Wir sind der Rhythmus von Tag und Nacht, wir sind die Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne. Wir sind auch das Gewicht der Erde – wäre sie nur etwas schwerer und die Gravitation stärker, hätte alles eine andere Gestalt, auch unsere Körper. Wir sind die Geschwindigkeit der Erde. Mit über 100.000 Kilometern pro Stunde rast sie um die Sonne, mit Überschallgeschwindigkeit dreht sie sich dabei um sich selbst – und die ganze Galaxie bewegt sich mit dem unglaublichen Tempo von 500 Kilometern pro Sekunde durchs Weltall. Ein kosmisches Karussell – und uns flattert dabei nicht einmal ein Haar. Denn wir sitzen nicht auf ihm – wir sind dieses Karussell.

Wir sind auch die Geschichte der Erde, die Geschichte der Mineralstoffe, des Wassers und des Sonnenlichts. Und die aus ihnen hervorgehende Geschichte des Lebens, des Chaos, aus dem die Ursuppe, plötzlich, in eine neue Ordnung sprang und ein fortpflanzungsfähiger Einzeller entstand. Wir sind die ganze Evolution, von der Bakterie bis zum Blauwal, und die Milliarden Neuronen unseres Gehirns stellen vielleicht nichts anderes dar als eine hoch organisierte, symbiotische Kolonie von Mikroben. Wir sind auch die Pflanzen, ohne die wir gar nicht sein könnten: Sie vollbringen das Wunder und verwandeln Licht in Leben. Wir sind die Erde – so sehr, daß wir sie erst verlassen mußten, um dies zu verstehen und ein Gespür dafür zu bekommen: die Erde lebt. Während der Apollo-9-Mission mußte der Astronaut Rusty Schweickhart sein Raumschiff verlassen. Nur durch eine Art Hundeleine mit der Kapsel verbunden, sollte er freischwebend einige Tests durchführen. Doch irgend etwas klemmte, der bis auf jeden Handgriff haarklein geplante Ablauf verzögert sich, und während dieser Pause drängte sich Schweickhart die Frage auf: Wer bin ich, was tue ich hier, was sehen meine Augen? Er sah den blauen Planeten unter sich, die fraktalen Muster der Gebirge und Täler und Wolkenfussel – und realisiert plötzlich: Diese Erde ist ein Lebewesen, und ich bin ein verlängertes Sinnes- und Willensorgan dieses Lebewesens – ausgesandt, um die Meldung zurückzubringen, daß die Erde lebt. Als Angehöriger der Nationalgarde und knallharter Cowboy-Typ war der Astronaut Schweickhart alles andere als ein romantischer Schwärmer – die zweiminütige Arbeitslosigkeit im All aber hat sein Welt-Bild völlig verändert. Zurück auf der Erde, gründete er eine Raumfahrervereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Wahrnehmung der Erde als Lebewesen publik zu machen und für ihren Schutz zu streiten. Für diese Astronauten ist die Atmosphäre keine simple Gas- Schicht, sondern so etwas wie das Fell eines Tieres oder die Federn eines Vogels – eine subtile biologische Konstruktion, deren Funktionsweise exakt auf die Bedürfnisse des Organismus abgestimmt ist und die es zu erhalten gilt, wenn wir Menschen, als winzige Läuse in diesem Pelz, weiterleben wollen. Mußten, um ein Bewußtsein von der Lebendigkeit des ganzen Planeten und der Läusehaftigkeit der Menschen zu gewinnen, mußten erst ein paar Läuse in den Himmel fliegen? Eines ist sicher: Wäre die Weltklimakonferenz mit Astronauten besetzt, müßten wir uns über die Ergebnisse keine Sorgen machen.

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