Das dekorative Gemeinwesen

■ Wichtig ist nicht das konkrete Holocaust-Mahnmal, sondern der Auftrag: "Man kann nicht alles an Objekte delegieren", meint Jochen Gerz über das Verhältnis von Öffentlichkeit, Kunst und Gedenkkultur

Verdrängen und Vergessen funktionieren nahezu mechanisch – so jedenfalls könnte eine der Konsequenzen lauten, die sich aus dem Hamburger „Mahnmal gegen Faschismus“ ergeben. 1986 von Esther und Jochen Gerz installiert, ist die Arbeit inzwischen komplett im Boden versunken – wie unter dem Druck der in das Mahnmal geritzten Kommentare. Dafür erhielt Gerz 1990 den Bremer „Rolandpreis“ für „Kunst im öffentlichen Raum“. Der mit 20.000 Mark dotierte Preis ist mit einem neuerlichen Auftrag verbunden. Welchen – das wollte Gerz in der Folgezeit erst mal herausfinden. Die „Bremer Befragung“, die er mit einer Hochschulgruppe seither durchführte, forderte den Bürgerinnen und Bürgern ihre genauen Vorstellungen von Kunst ab. Ergebnis: Die Leute sprechen der Kunst immer noch die Kraft zu gesellschaftlichen Veränderungen zu, und sie erwarten Entsprechendes von der Kunst. Jetzt stellte Gerz den vorläufig letzten Schritt im Prozeß der „Befragung“ vor. Auf einer Metallplatte wird demnächst die Chronik des Projekts eingraviert, mitsamt der Namen der 269 Teilnehmer. Im Juni soll die Arbeit mit dem Titel „Sine Somno Nihil“ auf einer Bremer Brücke installiert werden, Gerz empfindet sie als Teil einer „Familie“ gleichgesinnter Kunstwerke, gemeinsam mit dem Hamburger Mahnmal und dem Saarbrücker Mahnmal gegen Rassismus „2146 Steine“ (1993). Über das Verhältnis zu Denk- und Mahnmalen sprach die taz mit Jochen Gerz in Bremen.

taz: Nun ist es ja doch ein richtiges Monument geworden. Eigentlich wollten Sie doch „lieber eine Arbeit weniger machen als eine mehr“.

Jochen Gerz: Ich habe nie, auch nicht im Tiefschlaf, davon geredet, daß dies ein Monument würde. Ich nenne es eine Skulptur.

In jedem Fall wird es jetzt eine materielle Form annehmen; vorher war die Arbeit einfach eine Befragung.

Diese Skulptur ist weiterhin immateriell. Sie wird jetzt lediglich verortet. Der Platz auf der Weserbrücke bezeichnet nur die Stelle. Hier werden die Passanten eingeladen, sich etwas vorzustellen, was es nicht gibt. Es ist also eigentlich nur eine Aussichts-Stelle. Die Skulptur ist nicht da – sie ist das, was sich die Leute vorstellen.

Wen empfinden Sie eigentlich als ihren Auftraggeber? Den Senat, der den Preis gestiftet hat? Die Bremer Bürgerinnen und Bürger? Die Befragten?

Im 20. Jahrhundert besteht der Auftrag ja aus einem Nicht-Auftrag. Das heißt: Die Geste des Beauftragens wird noch beibehalten, in diesem Fall vom Bremer Kultursenator; aber eine inhaltliche Vorgabe zum Auftrag gibt es nicht mehr. Natürlich aus gutem Grund. Wir wollen keine Marienbilder mehr, wir wollen keine stalinistischen Schenkel, wir wollen keine faschistischen Stadionbauten. Also zieht sich das Gemeinwesen aus dem Auftrag total zurück und sagt: Genau dieser Nicht-Auftrag, das ist Kunst. In dieser Negativform entsteht dann unser Begriff von dem Refugium, das wir Freiheit der Kunst nennen. Ich habe in Bremen versucht, genau das wieder zu problematisieren. Ich wollte nur klarmachen, daß ein Gemeinwesen letztlich nicht funktionieren kann, wenn es kein eigenes Selbstverständnis betreffend seines Auftrages hat.

Die Angst vor der Schuld, die Angst vor der Spur kann dazu führen, daß wir uns alle privatisieren und das Gemeinwesen nur noch ein Dekor ist, ein ansonsten verlassenes Dekor. Natürlich ist mir klar, daß es heute nicht leicht ist, Freude am Auftrag zu finden, nach all dem, was im Namen des Auftrags passiert ist. Aber ich glaube nicht, daß es eine Alternative zum Leben gibt. Und daher muß man zu solchen Dingen wieder vorsichtig zurückfinden. Vor den Objekten steht der Mensch; man kann nicht alles an die Objekte delegieren.

Dieser Versuch wird dennoch immer wieder gemacht; die Pläne für das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden des Holocaust ist ein Beispiel dafür. Zu Ihrem Mahnmal in Hamburg sagten Sie: „Nichts kann sich auf Dauer an unserer Stelle gegen das Unrecht erheben.“ Nun scheint es, als sollten wieder ganz erhebliche Materialmassen mobilisiert werden und sich vorm Brandenburger Tor erheben.

Ich glaube, daß Berlin in einer Beziehung wirklich ein revolutionärer Schritt ist, auch wenn er vielleicht in die Vergangenheit führt: Hier wird letztlich die Zuständigkeit des Künstlers für solche Lösungen zur Disposition gestellt. Man sollte sich überlegen, ob man noch an der Metapher „Künstler“ festhalten muß, angesichts der massiven Art der Vorsortierung durch den Auftrag, wie sie dort geschieht – sei es durch die personelle Besetzung einer solchen Jury, sei es durch die dahinterstehenden politischen Entscheidungsträger. Ich könnte mir sehr gut vorstellen – ohne jede Wertschätzung oder Ironie –, daß es in Deutschland jemanden Kompetentes gibt, der eine intensive Vorstellung von einer solchen Arbeit hätte, und der sie deshalb selbst machen sollte – das wäre Helmut Kohl. Ich würde ein solches Mahnmal von Helmut Kohl machen lassen. Dann haben sie, was sie brauchen; dann haben sie, was sie suchen. Und dann braucht man damit nicht andere Gattungen zu korrumpieren. Ich würde Helmut Kohl auch den Käthe-Kollwitz-Preis geben.

Ist es nicht auch das Problem der Künstler, daß sie immer wieder eine sehr prominente Form in den öffentlichen Raum setzen müssen, mit ihrer eigenen Handschrift versehen? Das Ungers-Quadrat ist ja ein schönes Beispiel dafür.

Man kann kein Mahnmal in seinem Atelier machen. Ich glaube, daß eine solche Arbeit – wie eine Performance – nicht ohne das Leben der Umgebung funktionieren kann. Diese Abhängigkeit hat aber auch etwas sehr Schönes. Ich stelle mir sehr gerne die Leute vor, denen sich die Kunst verdankt und die der Kunst etwas verdanken. Ich stelle mir auch gerne Aufträge vor. Aber ich mache vielleicht nur drei oder vier in meinem Leben. Ich habe in keiner Phase jemals die Versuchung verspürt, mich an diesem Wettbewerb zu beteiligen.

In Bremen haben Sie anfangs gesagt, Sie wären froh, wenn Sie „eine Arbeit weniger“ machen könnten. Ist das auch eine Empfehlung für Berlin? Wäre da eine Arbeit weniger das Angemessene?

Ja. Es wäre eine hervorragende Arbeit. Es wäre eine radikale, ernüchternde und erschütternde Arbeit.

... den Platz freizulassen?

Nein; ich habe nicht gesagt, daß das eine Arbeit wäre, den Platz freizulassen – es müßte gedacht werden; es müßte empfunden werden; es müßte gemacht werden. Die Arbeit ist nirgendwo. Ein solcher Gedanke – das wäre ein Acker, auf dem etwas gedeihen könnte.

Sie begreifen Information als das Material unserer Zeit. Aber läßt sich der Holocaust überhaupt als Information begreifen und darstellen?

Ich glaube, daß man in Deutschland zu stark fixiert ist auf Rezepte. Man möchte gerne wissen, wie man Kinder kriegt. Man möchte gerne wissen, wie man stirbt, wie man leidet, wie man kommuniziert. Aber die Wörter sind alle erfunden worden in einem Moment, als es das Phänomen schon gab. Insofern stehen wir noch immer primär im Verhältnis zu unserer Sprache. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist unsere Sprache im Fluß zu halten.

Ich arbeite nicht an einer Rezeptur. Jeder Auftrag, auch der selbstgestellte, ist eine Auseinandersetzung mit der Unkenntnis, nicht mit der Kenntnis. Mich interessieren Dinge, die ich nicht kann. Ich kann mir nur im nachhinein überlegen, was an einer Arbeit brauchbar ist. Aber eigentlich ist jede Arbeit auch eine Art von Verlust. Denn die Arbeit, die man noch nicht gemacht hat, die ist man noch selbst. Am Schluß ist man nur noch umgeben von einem Katalog von Dingen, die man eigentlich kaum noch sieht und kaum noch erlebt. Interview: Thomas Wolff