Kein dritter Weg

Wie hängen Demokratie und Diktatur zusammen? Ein ruhiger Historikerblick auf Wendezeiten der Geschichte  ■ Von Dominic Johnson

In Zeiten des politischen Umbruchs, der uns alle paar Jahre neue Landkarten Europas beschert, ist die Detailobservierung so komplex geworden, daß der Rückgriff auf la longue durée, die große historische Dauer, wie eine Erholung wirkt. Von dem sicheren Fluchtpunkt der Jahrhundertrhythmen aus betrachtet, erscheint Europa doch wesentlich weniger aufgewühlt als uns die kurzatmige Krisenperspektive der Gegenwart verheißen will.

Der seit 40 Jahren publizierende Historiker Karl Dietrich Bracher hat in seinem neuen Essayband „Wendezeiten der Geschichte“ bewußt diesen abgeklärten Blick gewählt. „Erklärung und Einordnung zu erreichen, die Zusammenhänge zu deuten, grundlegende Erfahrungen und Einsichten zu gewinnen“, ist Sinn dieser Aufsätze, welche die „totalitäre Erfahrung“ des 20. Jahrhunderts erfassen wollen. Die – mit einer aus dem Jahr 1983 stammenden Ausnahme – im Zeitraum von 1987 bis 1992 entstandenen Aufsätze, sind in ihrer Gesamtheit vor allem ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte.

Bracher will zunächst zeigen, daß wichtige Begriffe der Politik – auch wenn sie erst in der Moderne explizit auftauchen – nicht historisch zu relativieren sind oder einer zeitlichen Eingrenzung entspringen, sondern aus dauerhaften und universellen Erfahrungen hergeleitet werden können: So etwa der klassisch moderne Begriff des Fortschritts, der dem bereits in der Antike vorhandenen Bewußtsein für das Erreichen oder eben Verfehlen politischer Erwartungen entspricht. Oder der Begriff der Macht: Beide, Fortschritt und Macht, sind zugleich Schlüsselbegriffe für die Analyse der jüngsten Umbrüche in Europa. Denn um diese zu verstehen, muß klar sein, ob es sich dabei um einen historischen Fortschritt handelt oder nicht; außerdem spielt der Begriff der Macht – also „historische Erfahrungen und Vorstellungen von Machtverlust und Machtvakuum, von Machtverschiebung und Machtwechsel, hoffentlich nicht wieder von diktatorischer Machtergreifung“ – eine zentrale Rolle.

Durch die Klärung zeitloser Begriffe also sollen aus der jüngsten Geschichte politisch fruchtbare Lehren gezogen werden. Ein Begriff allerdings ist auch historisch neu. „Totalitarismus“ – das Wort, das laut Bracher der Historiker Alexis de Tocqueville in seinen vor 160 Jahren geschriebenen Betrachtungen zur amerikanischen Demokratie und ihren zukünftigen Gefährdungen suchte und nicht fand – ist für Bracher der Schlüsselbegriff des 20. Jahrhunderts und in seiner praktischen Anwendung hoffentlich auf dieses Jahrhundert beschränkt. Die undifferenzierte Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus ist seit dem Zerfall der Sowjetunion derart zum Allgemeinplatz geworden, daß der Totalitarismusbegriff in dieser inflationären Anwendung seinen Sinn völlig verloren hat. Soll er zu etwas nützlich sein, darf der Begriff nicht einfach mit autoritärer Herrschaft, mit bösen Diktatoren oder menschenrechtsverachtender Machtausübung gleichgesetzt werden. Er bezeichnet vielmehr eine bestimmte Weise des praktischen Umgangs mit politischen Ideen.

„Alle Ideen und Bewegungen mit absoluter, unilateraler Zielsetzung“, schreibt Bracher, „sind auch heute potentiell totalitär, sofern ihnen der Zweck die Mittel heiligt und sie den Glauben verbreiten, daß es einen Schlüssel zur Lösung aller Probleme hier auf Erden gäbe.“ Damit sind Demokratien genauso totalitarismusfähig wie Diktaturen. Bracher knüpft mehrfach an den israelischen Historiker Jakob Talmon und sein Werk „The Origins of Totalitarian Democracy“ an – eine ideengeschichtliche Studie der Französischen Revolution und ihrer Folgen –, um davor zu warnen, daß auch Demokraten der totalitären Gefahr erliegen können, indem sie als Ziel eine „perfekte“ Demokratie durch vollständige Identität von Regime und Volk anstreben. „Die totalitäre Erfahrung“ ist für Bracher die, „daß der Totalitarismus einhergeht, ja aufs engste verknüpft ist mit dem Aufstieg der modernen Demokratie“. Das, zusammen mit dem Bewußtsein eines „grundlegenden Unterschieds zwischen den politischen Systemen von Demokratie und Diktatur“, sollte, so der Historiker, die Lehre des ausgehenden 20. Jahrhunderts sein.

Brachers weitergehende Frage nach dem Ursprung des Totalitarismus ist wichtig – und brisant –, gerade heute, wo in Europa ein selbstgefälliges und relativ blindes Vertrauen in demokratische Prozesse und Persönlichkeiten vorherrscht und die Gefahr der Diktatur hauptsächlich im bösen Willen und der manipulativen Fähigkeit machthungriger Despoten vermutet wird.

Erneut zitiert Bracher Tocqueville und kommt zu dem Schluß, der Totalitarismus entstehe in der Praxis oft „gerade als eine optimale Synthese beider Prinzipien, des demokratischen und des diktatorischen“, also nicht als Parteinahme im politischen Richtungsstreit, sondern im Anspruch, ihn überwinden zu können. Damit ist Totalitarismus für Bracher gleichzusetzen mit der „Illusion vom dritten Weg“, die ihm zufolge der Relativierung der demokratischen Idee und der Meinung, Demokratie sei allein ein Privileg für hochentwickelte Nationen, entspringt.

Für Linke, die bisher im „dritten Weg“ des „demokratischen Sozialismus“ den Ausweg aus totalitären Abgründen zu finden meinten, ist dies zumindest eine diskussionswürdige Analyse. Sie ist auch ein wichtiger Ansatzpunkt für Betrachtungen über vermeintliche dritte Wege in islamistischen oder anders genannten demokratieskeptischen Herrschaftssystemen der Dritten Welt. In diesen ideengeschichtlichen Analysen liegt die Relevanz der Essays, noch Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus.

Es dürfte schwierig und allemal unnötig sein, überzeugendere Alternativen zur von Bracher vertretenen bescheidenen Universalität des Demokratieprinzips zu finden.

Karl Dietrich Bracher: Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays. dtv Wissenschaft, München 1995, 368 S., DM 24,90