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In aller Stille haben die fünf „offiziellen“ Atommächte eine neue Militärdoktrin entwickelt: Taktische Atomwaffen sollen die Staaten des Südens abhalten, selbst Atombomben einzusetzen. Die Konferenz zur Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags wird damit schon im vorhinein belastet Von Andreas Zumach

Mini-Nukes gegen die Bombe

Auch fünf Jahre nach Ende des Kalten Krieges machen Atomwaffenthemen weiterhin Schlagzeilen: Ob Plutoniumschmuggel und außer Kontrolle geratene Sprengköpfe in der Ex-UdSSR, Probleme bei der Umsetzung des Start-Vertrages, russisch-iranische Atomgeschäfte oder die atomaren Pläne Nordkoreas und anderer Staaten: fast immer sitzen die Informanten und Stichwortgeber für diese Schlagzeilen in Washington und anderen westlichen Hauptstädten. Daß der Fall BND/Schmidbauer/ russischer Plutoniumschmuggel nicht der einzige ist, in dem westliche Geheimdienste und Regierungen die Vorgänge, die sie dann den Medien verkaufen, erst selbst organisieren, muß angenommen werden.

Im Windschatten all dieser Schlagzeilen vollzieht sich seit 1991 vor allem in den USA ein brisanter Wandel der Einsatzdoktrinen, Zielplanungen und technologischen Entwicklungen: weg von der Bereithaltung zumeist strategischer Atomwaffen als politisches Instrument – das heißt zur Abschreckung von Angriffen der ehemaligen Sowjetunion auf Nato- Territorium – und hin zu Drohung mit und Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen Drittstaaten, um zu verhindern, daß diese sich ABC-Waffen oder ballistische Raketen aneignen oder diese einsetzen („Counterproliferation“).

Diese neue Doktrin wird – zumindest indirekt – auch auf der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag eine Rolle spielen, die ab Ostermontag in New York stattfindet (siehe Artikel unten).

Im Jahresbericht des Pentagons vom Januar 1994 wurde die Neudefinition der amerikanischen Atomwaffenpolitik erstmals offiziell als eine zentrale Aufgabe benannt. Bereits im April 1993 hatten sich die Oberkommandierenden von Armee, Luftwaffe und Marine auf eine neue „Militärdoktrin für gemeinsame Nuklearoperationen“ geeinigt. Darin wird die künftige Rolle von US-Atomwaffen in „regionalen Einsätzen“ ausführlich beschrieben. Wesentliche Basis für diese Doktrin sind die Schlußfolgerungen der US-Militärs aus Iraks Einsatz ballistischer Raketen im Golfkrieg sowie aus Bagdads geheimem Rüstungsprogramm für Massenvernichtungswaffen.

In einer Anfang des Jahres veröffentlichten Studie hat „Greenpeace“ zahlreiche zum Teil interne Dokumente sowie Aussagen von US-Militärs und Regierungsmitgliedern analysiert, die den Wandel der amerikanischen Atomwaffenpolitik belegen („Changing Targets: Nuclear Doctrine from the Cold War to the Third World“, Greenpeace London, Press Department). Unter den Bezeichnungen „Mikro-Nukes“, „Mini- Nukes“ und „Tiny-Nukes“ entwickeln die Atomwaffenlaboratorien der USA inzwischen im Auftrag des Pentagons eine ganze Generation neuer taktischer Atomwaffen. Die ersten neuen Systeme sollen noch vor der Jahrtausendwende an die US-Streitkräfte ausgeliefert werden.

„Atomwaffen sind keine Gefechtsfeldwaffen; sie können nicht eingesetzt werden – außer als allerletztes Mittel, wenn das eigene Territorium bedroht ist.“ Mit dieser Erklärung des damaligen Außenministers Dumas vom Februar 1991 hatte Frankreich während des Golfkriegs im Unterschied zu den USA einen Einsatz von Atomwaffen gegen den Irak kategorisch abgelehnt – selbst als Reaktion auf einen irakischen Giftgasangriff. Ein Atomwaffeneinsatz wäre „der Rückfall in die Barbarei“, betonte Präsident Mitterrand seinerzeit.

Inzwischen haben die politische und militärische Führung in Paris die Entwicklung in den USA weitgehend nachvollzogen. Im letzten Verteidigungs-Weißbuch der Regierung wird die Aufgabe der französischen Nuklearabschreckung ausdrücklich ausgedehnt auf die Counterproliferation. Zwar wurde bislang offiziell keine neue Zielplanung bekanntgegeben. Doch die Ausrüstung der Streitkräfte mit neuen Atomwaffen und Trägersystemen (zum Beispiel das mit der nuklearen Cruise-Missile vom Typ ASLP bestückte Kampfflugzeug Rafale N) sowie deren Stationierung in der Nähe der Mittelmeerküste versetzen Frankreich in die Lage zu Counterproliferationsmaßnahmen gegen Nordafrika und den Nahen Osten.

Auch die Regierung in London begründet die weitere Existenz der britischen Atomstreitmacht zunehmend mit der Notwendigkeit der Counterproliferation. Die Trident-Flotte mit ihrer ursprünglich ausschließlich auf die Sowjetunion gerichteten strategischen Abschreckungsrolle wird umgerüstet und soll künftig auch taktische und substrategische Aufgaben übernehmen.

„Es ist eine politische und keine militärische Aufgabe, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern.“ Mit diesem Argument reagierte die Regierung in Moskau lange Zeit auf das Drängen der USA auf militärische Gegenmaßnahmen gegen die „Bedrohung aus dem Süden“ mit ABC-Waffen und ballistischen Raketen. Im Juni und Dezember 1994 machten Verteidigungsminister Gratschow und der Kommandeur der Strategischen Raketenstreitkräfte, General Sergejew, öffentlich deutlich, daß auch Rußland seine Haltung revidiert und sich der Einschätzung der USA angeschlossen hat.

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