: Plutonium für Privatleute
■ Selbstgestrickte Sicherheitsstandards und geringe Kontrollen: Ein Experte hält es für möglich, spaltbares Material aus der russischen Atomindustrie herauszuschmuggeln
Wladimir Michailowitsch Kusnezow war der jüngste Chef der staatlichen Atominspektion der Russischen Föderation. Seiner Aufsicht unterstanden die atomaren Forschungsreaktoren im Bezirk Moskau, in Norilsk und in Tomsk. Weil er zuviel kontrollierte, zwang man ihn im Dezember 1992, seine Stelle selbst zu kündigen. Seine engsten Mitarbeiter gingen mit ihm; sie bilden heute bei der „Internationalen Tschernobyl-Stiftung“ ein Informations- und Analysezentrum zur Warnung vor Reaktorunfällen. Schon letzten Sommer hatte Kusnezow der taz sein Befremden über das „untaktische“ Verhalten der deutschen Sicherheitsdienste im der Münchner Affäre mitgeteilt.
taz: Die letzten Tage haben gezeigt, daß Ihnen die Handlungen unserer Geheimdienste zu Recht verdächtig vorkamen. Trotzdem bleibt die Frage: Kann das in München beschlagnahmte Plutonium aus der Russischen Föderation stammen?
Kusnezow: Uns liegt jetzt der Rechenschaftsbericht der staatlichen Atominspektion für das Jahr 1994 vor. Darin heißt es, daß es in diesem Zeitraum zu 14 Diebstählen radioaktiven Materials in Unternehmen des Atomministeriums gekommen ist. Diese Rechenschaftsberichte werden zum Beispiel für den Sicherheitsrat und andere Gremien angefertigt. Wenn solche Fälle darin aufgeführt werden, dann müssen sie auch bekannt sein. Mir stellt sich gleich die Frage: Wie viele sind dann nicht bekannt? Zweitens: Das Material, um das es in dem deutschen Skandal geht, ist nun mal per Flugzeug aus unserem Lande gekommen. Und wenn es nicht aus Rußland stammte, dann müßte es ja erst einmal hierher eingeführt worden sein. Das hieße dann: Unsere Zollbehörden funktionieren überhaupt nicht.
Wo befindet sich denn jetzt in der GUS überhaupt noch zum Waffenbau geeignetes spaltbares Material? Im Westen bestehen zum Beispiel Befürchtungen, daß Länder wie Tschetschenien, Kasachstan oder Tadschikistan atomare Koalitionen mit anderen islamischen Staaten eingehen könnten.
In Tschetschenien gab es keinerlei Unternehmen zur Verarbeitung spaltbarer Stoffe, allerdings eine große Endlagerstätte. Hier in Rußland spukte eine Zeitlang die Angst herum, Dudajew und seine Bundesgenossen könnten diesen Atommüll zu Staub zermalmen und dann zwecks Verseuchung über die benachbarten Gebiete pusten. Tatsächlich geäußert hat eine ähnliche Idee einmal Wladimir Schirinowski. Als die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit erhielten, schlug er vor, an ihren Grenzen Fässer mit solchen Abfallprodukten aufzustellen und dieses ganze Mistzeug dann von Ventilatoren gen Norden wirbeln zu lassen. Aber zurück zur GUS: In Kasachstan wird Uran gefördert, und nach dem Zerfall der UdSSR lagerten dort etwa 300 Kilogramm spaltbaren Materials. In diesem Jahr hat die kasachische Regierung dies alles der amerikanischen verkauft, um Skandalen auf ihrem eigenen Territorium zuvorzukommen und eine adäquate Weiterverarbeitung zu gewährleisten. Weitere Produktionsstätten von kernwaffengeeigneten Materialien sind mir in der GUS nicht bekannt. Nicht einmal die Ukraine hat entsprechende Anlagen.
Bei unserem letzten Treffen äußerten Sie Besorgnis über die Umstände, unter denen hier aus Atomraketensprengköpfen Brennstoff für kommerzielle Reaktoren gewonnen wird. Wenn ich mich recht erinnere, wird das Endprodukt auch in die USA exportiert.
Die Umarbeitung der Sprengköpfe findet bei uns an drei oder vier Orten statt, und da geht es wirklich gefährlich zu. Alle diese Fabriken unterstehen zwar dem Atomministerium, der sogenannten siebten Abteilung, aber deren Sicherheitsstandards sind selbstgestrickt und entsprechen in keiner Weise internationalen Standards. Sowohl die Eingangs- und Ausgangskontrolle als auch die Inventur vorhandener spaltbarer Materialien wird bei uns oft lediglich anhand der Begleitdokumente vorgenommen, die natürlich gefälscht sein können. Was da wirklich auf den Lagern liegt, wird nicht kontrolliert. Die Definition der Menge der in den Reaktoren tatsächlich verbrannten Stoffe wird über den Daumen gepeilt und nicht experimentell bestätigt. Die Erfüllung der diesbezüglichen Pläne für die Forschungsreaktoren des Moskauer Kurtschatow-Instituts bestätigt das nächste Unternehmen in der Kette, die Industrievereinigung „Majak“, mit so schöner Regelmäßigkeit, daß ich es kaum glauben kann.
Hinzu kommt, daß die Unternehmen des Atomministeriums nach konspirativem Prinzip alle nur von oben verwaltet werden. Sie kennen also höchstens die Schwachstellen in ihrer eigenen Fabrik, haben aber keinen blassen Schimmer, was in dem Werk auf der anderen Straßenseite in die Luft gehen könnte.
Welche Abhilfe gäbe es?
Sicherheitsvorkehrung Nummer1 muß in all diesen Fällen Transparenz und öffentliche Kontrolle sein. Außerdem halte ich es für wichtig, zwei verschiedene Behörden an die Spitze der zivilen und der militärischen Atomindustrie zu stellen. Bei uns sind diese Bereiche nicht getrennt, und 99 Prozent werden als „militärisch“ deklariert. Das bedeutet, daß alle Schlamperein im zivilen Sektor unter den Teppich der militärischen Geheimhaltung gekehrt werden können.
Wenn ein Atomphysiker und Freund von Ihnen morgen eine hübsche Portion hochangereichertes Plutoniums außer Landes schmuggeln wollte, was würden Sie ihm raten?
Erst mal: Die Sache langsamer anzugehen. So was muß man von langer Hand einfädeln. Er sollte in die Personalabteilung des Moskauer Instituts für angewandte Physik gehen, nur zehn Minuten von hier, und sich bewerben. Wenn er sich dort eingelebt hätte, müßte er mit dem Chef eben jener 7. Abteilung für die Verwaltung spaltbarer Materialien öfters mal einen trinken und sich darüber ausheulen, wie langweilig er seinen eigenen Posten findet und wie gern er versetzt werden würde. Wenn der ihn dann in sein eigene Abteilung übernommen hätte, müßte er sich bie ihm weiter einschmeicheln. Und indem er mit den Sünden unseres Systems vertraut würde, könnte er wahrscheinlich etwas herausschaffen. Nicht viel auf einmal, sondern in homöopathischen Dosen. Ich glaube, daß es dann kein großes Problem wäre, sich einen Absatzmarkt zu organisieren. Irgendwelche Auftraggeber aus jenen Ländern, über die wir gerade gesprochen haben, werden sich schon finden. Interview: Barbara Kerneck
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