: Die deutschen Grenzen der Pflege
Migranten, die ihre Rente in ihren Heimatländern genießen, leisten ihren Beitrag zur Pflegeversicherung, in den Genuß der Pflegeleistung kommen sie allerdings nicht ■ Aus Wiesbaden Franco Foraci
Wenige Minuten haben gefehlt und die 72jährige Griechin Alexandra P. hätte sich in ihrer Wiesbadener Wohnung am lebendigen Leib verbrannt. In eine kleine Pfanne hatte sie Olivenöl gegeben. Es sollte ein Omelette werden. Sie zündete den Gasherd an und strickte im Wohnzimmer an einem Wollpullover weiter. Als ihr Mann nach Hause kam, stand die halbe Küche in Flammen. Seitdem darf sie nie ohne Aufsicht zu Hause sein. Die Familie bekam dafür bisher 400 Mark Pflegegeld von der Sozialhilfe ausbezahlt. Frau P. leidet an Gedächtnisverlust. Dieses Jahr wollte das Ehepaar für immer in die Heimat nach Serres bei Saloniki zurück. Daraus wird jetzt nichts. Pflegegeld würden sie dort nicht mehr bekommen. Herrn P.s Rente von 500 Mark reicht in Griechenland allenfalls für die Miete.
In der Heimat lebende ausländische Rentner, die deutsche Pensionsgelder bekommen, müssen den Pflegeversicherungstopf mitfinanzieren. Werden sie aber pflegebedürftig, rührt die Bundesrepublik keinen Finger. Laut Pflegeversicherungsgesetz nämlich dürfen ausländische Pensionäre im Pflegefall nur „innerhalb der bundesdeutschen Grenzen“ behandelt werden.
Die deutsche Adresse zählt
Ludger Reuber, Sprecher des Arbeitsministeriums, verteidigt diese Regelung. Die Bundesregierung könne darin keine Diskriminierung sehen. Seiner Natur nach sei das neue System eine Risiko-Versicherung und keine Rücklagen- Police. Es gelte das Prinzip „Kein Export von Leistungen“. Jemand, der seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt habe, bei dem ruhten die eventuellen Ansprüche auf Leistungen aus der Pflegeversicherung bis zu dem Tag, an dem der erste Wohnsitz des Betreffenden wieder in Deutschland sei. „Die deutsche Adresse zählt“, erklärte Reuber der taz.
Der Teufel steckt wie immer im Detail. Deutsche Rentner aus der Toscana, auf den Malediven oder auf Mallorca können sich mit halblegalen Tricks sehr leicht aus der Affäre ziehen, indem sie ihren ersten Wohnsitz in der Bundesrepublik behalten und sich die zugesicherten Pflegekosten bei einer heimatlichen Bank ausbezahlen lassen, die dann wiederum die Summen ins Ausland überweist.
Den im Ausland lebenden nichtdeutschen Beziehern hiesiger Pensionen ist es dagegen rechtlich unmöglich, nach der Rückkehr in die Heimat einen geordneten bundesdeutschen Aufenthaltsstatus wiederzuerlangen. Selbst EU-Bürger haben da Probleme. Ist doch die europäische Freizügigkeitsregelung nur für Arbeitnehmer gedacht. Rentner aus Italien, Frankreich, Griechenland oder Österreich sind auf das Gutdünken der örtlichen Behörden angewiesen. Die stellen dann zeitlich limitierte Visa aus, wenn es ihnen in den Kram paßt. Ein Antragsrecht hat man in der Pflegeversicherung aber nur mit einer echten Aufenthaltsgenehmigung. Und die gibts für „repatriierte“ ältere MigrantInnen – dank großer Ermessensspielräume der Behörden – sowieso immer seltener. Ohne Aufenthaltsgenehmigung kein Antragsrecht. So schließt sich der Teufelskreis.
Nichtdeutsche Senioren hierzulande müssen sich, wie der spanische Übersetzer aus Kassel, Rogelio Barroso, mit der Einführung der neuen Pflegeversicherung darauf einrichten, ihren Lebensabend endgültig in der Bundesrepublik zu verbringen. Der 63 Jahre alte Mann muß sich als insulinspritzender Diabetiker auf mögliche Seh- oder Gehbehinderungen gefaßt machen. Er könnte bald zum Pflegefall werden.
Zwangsintegration
Strukturen für die multikulturelle Altenhilfe fehlen. Geeignetes zweisprachiges Personal wird selten ausgebildet. „Gerade die MigrantInnen der ersten Generation, denen die harte Maloche in Deutschland keine Zeit für das deutsche Wesen ließ, benötigen die Betreuung durch Muttersprachler. Altersheime werden sich wohl oder übel anpassen müssen“, meint Barroso. Die Folgen dieser Blüm-Maßnahmen seien trotzdem kaum abzusehen.
Von Travemünde bis Karlsruhe sind knapp über 800.000 Rentner von insgesamt 16 Millionen Pensionären Migranten und Migrantinnen. Mehr als zwei Drittel von ihnen leben in ihren Heimatländern. Weitere 500.000 bis 600.000 Menschen ohne deutschen Paß werden nach Expertenschätzungen schon in den nächsten fünf Jahren hinzukommen und anders als früher mehrheitlich hier bleiben. Nicht jeder Rentner wird zum Pflegefall, aber erfahrungsgemäß jeder zwölfte. Murat Cakir, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen (AGAH) kann die indirekte Ausländerpolitik in der Pflegeversicherung nur zynisch sehen: „Früher wurden nichtarische Frauen zwangssterilisiert, heute werden nichtdeutsche Alte zwangsintegriert.“ Die AGAH will nun gegen dieses „gesetzlich festgeschriebene Unrecht“ Front machen.
Spät, aber immerhin, entdeckt die Grünen-Opposition das Thema. Nach Ansicht der sozialpolitischen Sprecherin der Bündnisgrünen im Bundestag, Andrea Fischer, muß die Pflegeversicherung durch ein Nachtragsgesetz ergänzt werden, in dem das Prinzip „Kein Export von Leistungen“ ersatzlos gestrichen ist. Der Zwang zum Geldsparen dürfe nicht auf Kosten sozial und rechtlich Benachteiligter gehen.
In Fischers Augen ist das von der Bundesregierung immer wieder vorgebrachte Argument, im Ausland seien Anträge nicht prüfbar, lediglich vorgeschoben. „Wenn man davor so große Sorge hätte, dann könnte man ohne weiteres effiziente Sicherungen einbauen. Bei den künftigen Rentnern etwa könnte man eine Mindestbeitragszeit festlegen, die zum Leistungsanspruch berechtigt“, schlägt Fischer vor. Für den kompletten Ausschluß von Leistungen gebe es hingegen weder eine moralische Rechtfertigung noch überzeugende Sachargumente.
Vor den zu erwartenden Reaktionen der Behindertenverbände hatte der Bundessozialminister offenbar mehr Respekt. Um sein Reformwerk zu retten, verdonnerte er die Krankenkassen dazu, unterhalb der Gesetzesebene einen Fonds für Behinderte, die in Urlaub fahren und vor Ort gepflegt werden müssen, einzurichten. Im Gesetz gilt ja auch für sie theoretisch „Kein Export von Leistungen“. DGB und Ausländerinitiativen aus dem Rhein-Main-Gebiet prüfen derzeit die Verfassungsmäßigkeit der Pflegeversicherung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen