Pendler zwischen Büro und „Zivi“

Plädoyer gegen den zweiten Arbeitsmarkt und für eine gesellschaftliche Sphäre, in der ein sozialer, ökologischer oder kultureller Dienst dem Wohl der Gesellschaft verpflichtet ist und sich der kapitalistischen Warenverwertung entzieht  ■ Von Rainer Zoll

Die gewerkschaftliche Tarifpolitik stößt in der Frage der Arbeitsplatzsicherung immer wieder an Grenzen, und Gewerkschaftsfunktionäre kommen erneut zur Schlußfolgerung, daß es zur „Bekämpfung der katastrophalen Massenarbeitslosigkeit [...] einer beschäftigungsorientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik“ bedarf (Peters u.a. 1994). Doch gibt es in der derzeitigen wirtschaftlichen Situation zwar Ideen, wie eine solche Wirtschafts- und Sozialpolitik aussehen könnte, aber keine überzeugenden Beispiele praktischer Verwirklichung.

Der Ruf nach einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik übersieht, daß die mikroelektronische Revolution die Ausgangsbedingungen radikal verändert hat; die Rationalisierungen des Produktionsprozesses und die damit einhergehende Produktivitätssteigerung hat gegenüber den früheren technologischen Umwälzungen ein unvergleichlich höheres Tempo. Dazu kommt die logistische Reorganisation des Produktionsprozesses. Beide eröffnen weitere enorme Rationalisierungs- und das heißt Arbeitsplatzvernichtungsmöglichkeiten.

André Gorz zitiert eine Berechnung von Lothar Späth und Henzler, einem McKinsey-Experten: „Wenn der höchste Stand der heute verfügbaren Technik überall dort angewendet würde, wo er anwendbar ist, würden von den 33 Millionen noch bestehenden Arbeitsplätzen in Deutschland gleich neun Millionen wegfallen. Die Arbeitslosigkeit würde auf 38 Prozent ansteigen.“ (Gorz 1994)

Die augenblicklich dominierende Art des Wirtschaftswachstums schafft Arbeitsplätze ab: jobless growth. Es ist folglich absurd, auf Wirtschaftswachstum zu setzen, um die Beschäftigungskrise zu lösen. In Folge der Beschäftigungskrise steigt die Zahl der Sozialhilfeempfänger; Konsequenz ist die „zunehmende Polarisierung“ der „Lebensbedingungen und Lebenslagen“ (O. v. Nell-Breuning-Institut 1994).

Ein Blick auf Lösungsansätze

Die Mehrzahl der bisher diskutierten oder zum Teil auch schon praktizierten Lösungsansätze geht von den Folgen, also der Armut aus und will sie durch die Garantie eines Grundeinkommens lindern. Wie das Kind nun genannt wird (Bürgergeld, Grundeinkommen, negative Einkommenssteuer), ist nebensächlich. Wichtig erscheint mir dagegen der Gedanke, das Recht auf ein Grundeinkommen an die Staatsbürgerschaft zu koppeln, was von vielen Autoren in neueren Beiträgen getan wird (unter anderem Mückenberger, Offe, Ostner 1989, Jordan 1992, Standing 1992). Während ein Mindesteinkommen der mit der Spaltung der Gesellschaft einhergehenden Marginalisierung kaum entgegenwirkt, ist mit dem Bürgereinkommen, auf das jeder Bürger unter bestimmten Bedingungen Anspruch hat, von vornherein die Idee der Gleichheit aller verbunden. Damit der Marginalisierung energisch und effektiv entgegengewirkt wird, muß der aus der Gleichheit der Bürger abgeleitete Anspruch insoweit substantiell sein, daß das Bürgereinkommen wirklich ausreichend ist.

Ein Teil der Befürworter eines Grundeinkommens will seine Gewährung an die Leistung von Arbeit binden, die letztlich zur Wiedereingliederung in das System der „normalen“ Lohnarbeit führen soll. Hier gibt es praktische Beispiele, die von Dienstverpflichtungen („Arbeitsdienst“) bis hin zu freiwilligen und meist nur recht eingeschränkt erfolgreichen Wiedereingliederungsprogrammen reichen. Warum solche Programme einen sehr relativen Erfolg haben, hängt damit zusammen, daß in einer so komplexen und dynamischen Wirtschaft naturgemäß immer wieder freie Stellen entstehen und daß diese Maßnahmen sich auch als Lohnzuschüsse für die Unternehmer erweisen.

Für die frei werdenden Stellen Arbeitnehmer mit der richtigen Qualifikation zu finden ist oft ein Problem, das heißt die Arbeitgeber haben durch Umschulungs- und Qualifizierungsprogramme die Möglichkeit, die notwendigen Ausbildungskosten auf die öffentliche Hand abzuwälzen.

Nicht sehr weit vom Mindesteinkommen liegen auch die Vorschläge, einen zweiten Arbeitsmarkt zu schaffen oder besser, da er längst existiert, ihn zu regulieren. Im Kern soll der zweite Arbeitsmarkt aus den durch ABMs, Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften und so weiter geschaffenen Arbeitsplätzen bestehen. Es handelt sich also im wesentlichen um öffentlich geförderte, zeitlich befristete und vom ersten Arbeitsmarkt abgegrenzte Arbeitsverhältnisse. Der zweite Arbeitsmarkt soll Brücken zum ersten schlagen (WSI 1993), er soll aber auch zur Lösung des grundsätzlichen Problems, daß weder genügend Arbeitsplätze vorhanden noch zu erwarten sind, beitragen.

In der Verfolgung dieses zweiten Ziels schlägt Christa Müller die Einrichtung eines öko-sozial-kulturellen Dienstes vor, der – mit der Grundsicherung verbunden – eine „normale Alternative zum ersten Arbeitsmarkt“ sein soll (Müller 1993). Zwar ist die Abgrenzung vom ersten Arbeitsmarkt begrifflich und institutionell nicht trennscharf genug, aber den Grundgedanken will ich weiter verfolgen.

„Eigentlich kann das gar nicht bezahlt werden!“

Die in diesem gar nicht so fiktiven Zitat angesprochene Grundproblematik geht weit über die Finanznot der öffentlichen Hand hinaus. Denn soziale Dienstleistungen bestehen im Kern aus persönlicher Zuwendung, aus caring, auch aus sogenannter Beziehungsarbeit. Soziale Dienste sind nicht meßbar wie die in der übrigen Lohnarbeit übliche Verausgabung von Arbeitskraft. Sicher gibt es Übergänge zwischen der „normalen“ Lohnarbeit und der Tätigkeit der sozialen Dienste, sicher wurden letztere trotz allem immer wieder quantifiziert und notwendigerweise auch bezahlt. Aber, wie wir wissen, überwiegend viel zu gering bei meist sehr hohen Anforderungen. Die Schlußfolgerung kann nur lauten: Soziale Dienste eignen sich nicht dafür, Ware zu sein. Die Tendenz der kapitalistischen Organisation des Lebens, alles zur Ware zu machen, trifft hier auf Barrieren.

„Eine großartige Erfindung der alten Bundesrepublik“

Harald Weinrich meint mit diesem Satz den Zivildienst, in dessen Rahmen „tatsächlich ein hohes Maß an Gemeinsinn, an Solidarsinn entstanden“ ist (Weinrich 1993). Viele Hochschullehrer können das wahrscheinlich ebenso wie ich anhand ihrer Erfahrungen mit Studenten, die Ersatzdienst oder Militärdienst geleistet haben, nur bestätigen. Eine andere Organisation der sozialen Dienste hätte unter anderem genau das zur Voraussetzung: „ein hohes Maß an Gemeinsinn, an Solidarsinn“.

Nun behaupten viele Deutungen unserer gesellschaftlichen Situation, daß Individualisierung die Menschen gewissermaßen verdirbt, daß sie immer ichbezogener, egoistischer und hedonistischer werden und daher zu Solidarsinn unfähig sind. Gegen diese Deutung sprechen jedoch nicht nur die Erfahrungen des Zivildienstes in Deutschland, sondern auch die des Friedenskorps in den USA, die des volontariato in Italien, des Entwicklungsdienstes, der coopération in Frankreich und so weiter. Wenn auch die Rede vom gänzlichen Verlust des Gemeinsinns verfehlt ist, so sind doch gesellschaftlich neue Formen notwendig, damit er sich entfalten kann. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Individuum und Staat als externalisiertem Repräsentanten der Gesellschaft ist – gemessen an den partizipatorischen Ansprüchen der Demokratie – gestört. Beteiligung ist ein Grundprinzip der Demokratie, das durch die Marginalisierung, durch den Ausschluß aus der Gesellschaft entscheidend eingeschränkt wird. Es geht also darum, „allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft das zu geben, was ihnen als Bürgern zusteht“, also auch die Möglichkeit zur politischen Beteiligung, und zugleich „Aktivitäten zu fördern, die die Qualität der sozialen Beziehungen verbessern“ (Jordan 1992).

Rechte und Pflichten

Der bürgerliche Gleichheitsgrundsatz findet in der normativen Gleichheit der Staatsbürger trotz aller sozialen Ungleichheit seine „Wahrheit“. „Die in dem Begriff der Staatsbürgerlichkeit implizite Gleichheit, obwohl dem Inhalt nach begrenzt, unterminiert die Ungleichheit des Klassensystems, das im Prinzip eine totale Ungleichheit war.“ (Marschall nach Janowitz 1980) Nach Marschall hat die Ausdehnung der bürgerlichen auf politische und weiter auf soziale Rechte zu einer „industriellen Staatsbürgerschaft“ geführt, für die die Gewerkschaften zentrale Institutionen sind.

Daß ein solches Potential an staatsbürgerlichem Bewußtsein, mehr noch, sogar an Solidarsinn in unseren Gesellschaften vorhanden ist, das scheinen mir die Erfahrungen der neuen sozialen Bewegungen und von Zivildienst, volontariato und peace corps – um nur einige herauszugreifen – zu belegen. Ich denke sogar, daß dieses Potential weitaus größer ist als das, was davon sichtbar wird. Ralf Dahrendorf geht davon aus, daß „Staatsbürgerschaft ein gesellschaftlicher Vertrag, ein Sozialkontrakt ist, der allgemein für alle Mitglieder (der Gesellschaft) gültig ist; Arbeit dagegen ist ein privater Vertrag“ (1988). Zugleich räumt er ein, daß „es wohl Sinn machen könnte, von den Bürgern zu verlangen, eine gewisse Zeit ihres Lebens der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.“

Kein zweiter Arbeitsmarkt

In diesem Sinne will ich einen Vorschlag zur Diskussion stellen, der die skizzierten Motive aufnimmt und verbindet: Die Schaffung eines zweiten Sektors der Gesellschaft, der nicht marktförmig organisiert wird, sondern auf der Wechselseitigkeit des Erhalts von – ausreichendem – Bürgereinkommen und der Leistung von sozialen, ökologischen und kulturellen Diensten beruht. Das Grundprinzip dieses Sektors sollte Reziprozität, sollte der Tausch sein – aber nicht der Warentausch, sondern der Gabentausch. Dies beinhaltet, daß die Arbeitskraft in diesem Sektor keine Warenform annimmt, das heißt, Leistung wird nicht gemessen – unter anderem weil sie in diesem Bereich sowieso kaum meßbar ist –, sondern flexible Tätigkeitszeiten und Aufgaben werden bestimmt. Während früher die Reproduktion der Arbeitskraft und indirekt der Gesellschaft durch die „sozialen Dienste“ der Frauen in der Kleinfamilie gewährleistet wurde, sollten sich künftig alle, Männer wie Frauen, durch soziale, kulturelle und ökologische Dienste im zweiten Sektor während eines Teils ihres Lebens direkt an der Reproduktion der Gesellschaft beteiligen.

Wie bisher muß dafür der erste Sektor zahlen, nur sollte dies jetzt gerechter zugehen, nicht nur wie im alten Modell die Frauen „unterhalten“ werden vom „Ernährer der Familie“, sondern alle im zweiten Sektor Tätigen ein für den „normalen“ Lebensstandard ausreichendes Bürgereinkommen erhalten; dafür garantieren sie im Austausch durch ihre Dienste die soziale, ökologische und kulturelle Reproduktion der Gesellschaft. Jede Frau und jeder Mann sollte im Idealfall ein Minimum von Jahren in jedem der Sektoren tätig sein. Entsprechend zu entwickelnde Lebenslaufmodelle könnten zum Beispiel eine Mindestzahl von Jahren Lohnarbeit und eine Mindestzahl von Jahren sozialer Dienste vorsehen.

Die Sozialdienst Leistenden könnten Feld und Inhalt ihres Dienstes frei wählen. Die Organisation der Dienste könnte sich am Zivildienstmodell orientieren, das heißt über bestehende oder auch neu zu gründende Verbände und Vereine lokaler, regionaler und nationaler Bedeutung laufen. Eine Stärkung des zivilgesellschaftlichen Bereichs der Gesellschaft wäre die wünschenswerte Folge. Anstelle einiger existierender oder gar neuer Sozialbürokratien würden in diesem Sektor dezentrale und zentrale Vermittlungsstellen zivilgesellschaftlicher Natur treten, ihre Tätigkeit müßten sie etwa über eine Abgabe, eine Art Vermittlungsgebühr vom Bürgergeld der einzelnen Sozialdienstler finanzieren. Die Rolle des Staates wäre die eines Garanten des Verfahrens.

In der Hoffnung, daß sich ein stärkerer Bürgersinn entwickelt

Es bleiben viele offene Fragen, was vielleicht eine Chance für einen wirklichen Diskurs darstellt. Einige will ich kurz ansprechen, so die der Freiwilligkeit der sozialen Dienste: ich tendiere zu dieser Lösung, aber sie hätte den Nachteil, daß sich Wohlhabende freikaufen könnten, weil sie das Bürgereinkommen weder für Studium noch anderes benötigten; der Zwang zum sozialen Dienst würde ihn jedoch für einige in die Nähe des nationalsozialistischen Arbeitsdienstes rücken. Eine Lösung könnte in der gesellschaftlichen Aufwertung sozialer Dienste liegen.

Die Einführung eines zweiten Sektors mit der Wechselseitigkeit des Bürgerrechts auf ein ausreichendes Bürgereinkommen und der Bürgerpflicht zu sozialen Diensten beinhaltet die Chance, die Spaltung der Gesellschaft abzulösen durch eine völlig andere Art von Dualisierung der individuellen Lebensläufe, in denen möglichst jeder die Erfahrung von Lohnarbeit wie von sozialen Diensten macht. Auch verbinde ich mit der durch individualisierte Sozialverträge verbrieften Reziprozität des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und mit der Praxis der sozialen Dienste die Hoffnung, daß sich ein stärkerer Bürgersinn entwickelt, eine größere Verantwortlichkeit des Individuums für die Gesellschaft.

Der Autor ist Professor für Gewerkschaftssoziologie an der Universität Bremen

Zur Debatte siehe auch den Artikel der grünen sozialpolitischen Sprecherin Andrea Fischer in der taz vom 20.4. auf Seite 10