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Der schöne Schein im Valle

Kanareninsel La Gomera: Seebär Capitano Claudio gibt Einblicke in die vielschichtige deutsche Szene im Valle Gran Rey. Die alternative Urlaubergemeinde wächst von Jahr zu Jahr, ebenso der Teerverbrauch für neue Straßen  ■ Von Bernd Müllender

Waren Sie schon mal auf Gomera? Natürlich! Oder doch nicht? Aber sicher kennen Sie reihenweise Leute, die schon mal da waren. Na sehen Sie, zumindest das.

Und alle, alle fahren sie ins Valle. Ins Valle Gran Rey, jenes unzweifelhaft schöne „Tal des großen Königs“. Da urlaubt die Szene: die Familien und die vielen Alleinerziehenden wegen der Baby- und Kinderfreundlichkeit. All die Singles auf der Suche nach nachtweiser Statusänderung. Und diejenigen, welche korrekten Denkens sind, sowieso: Hier trifft man Gleichgesinnte und Gleichgesonnte ohne Zahl, denn im Valle, so heißt es, ist immer halb Berlin (resp. Hamburg, Köln, Aachen, Kreuzberg) versammelt.

Gomera – como siempre: Nacktbaden an der „Playa Inglés“ oder in der „Schweinebucht“ hinter der Sannyasin-Finca. Kinderplanschen am Babybeach „Charco del Conde“. Wohnen beim alten Dominguez. Stranduntergangsritual bei Maria. Café sólo in der „Yaya Bar“. Knoblauchthunfisch bei Sebastián. Frühnachts „Cacatua“-Bar in Vueltas, spätnachts Disko nebenan. Und am nächsten Tag alles wieder von vorn...

Ein Valle-Besuch ist wie eine Zeitreise. Hier kann man das Lebensgefühl der Siebziger nachspüren; es gibt noch Anti-AKW-Aufkleber auf den rostigen Autos mit deutschem Nummernschild, hier laufen noch richtige Langhaarige in Massen herum (die sich selbst als Hippies bezeichnen), hier holt manchmal noch einer die Klampfe heraus für die schönen alten Lieder. So weit Klischee, so weit auch die Wirklichkeit. Aber nur ein Teil von ihr.

Das Valle-Ghetto ist fest in deutscher Hand. Mittlerweile gibt es im Valle Gran Rey nicht nur die stetig wachsende Zahl von (gealterten) Szene-Urlaubern. Sondern auch Zehntausende Pauschaltouristen jedes Jahr. Dazu eine gut hundertköpfige Kolonie von Ausgewanderten aus Alemania: Geschäftsleute, Lebenskünstler, Kunsthandwerkerinnen, Kneipiers, Biobäcker. Und jedes Jahr kommen viele hundert vornehmlich sehr junge Leute, die hier billig und relaxed gleich ganz überwintern wollen. Eines verbindet alle, so verschieden sie sind: die große Illusion von der heilen Gomera- Welt.

Einer, der alle die verschiedenen Typen kennt, die hier ihr Glück finden wollen, ist Capitano Claudio. Eigentlich heißt er Klaus Heinrichs, ist 58 und vor zehn Jahren „auf Segeltörn um die Welt zum Wassertanken hier vorbeigekommen und dann hängengeblieben“. Werbeagentur und Musikverlag in Deutschland gab er dran, jetzt hat er in Vueltas einen Kramladen mit Angelbedarf, der gleichzeitig Klöntreff ist und Infobörse, Buchungsstelle für Ausflugsfahrten und Segeltörns, Gelegenheitsarbeitsamt für Überwinterer. „Wir sind schon eine seltsame Mischung, wir ,Quadratköpfe‘, ,notorischen Rechthaber‘ und ,Kartoffelesser‘, wie die Einheimischen hier zu den Deutschen sagen.“

Claudio, verheiratet mit einer Spanierin, weiß viel zu erzählen. Welcher deutschen Gruppe er sich nahe fühlt, das zu sagen fällt ihm schwer: „Das hat mit der Nationalität wenig zu tun, mehr mit der Mentalität der einzelnen. Ich kann mich mit einem deutschen Aussteiger über ganz andere Sachen unterhalten als mit meinem spanischen Nachbarn. In Gomera haben wir das große Glück, daß 80 Prozent der Touristen vernünftige Leute sind, die anders über die Dinge nachdenken, nur maximal 20 Prozent sind wirkliche Ottos. Die buchen eine Delphinfahrt, und wenn keine Delphine da sind, wollen sie ihr Geld zurück.“

Gut und böse? So einfach ist das nicht. Claudio nennt das Beispiel Umweltprobleme. „Da sind die einheimischen Fischer, alles liebe nette Leute, aber wenn die ihr Motoröl ins Meer kippen, kapieren die nicht, was ich will, die sagen, mit der nächsten Ebbe ist das doch weg.“ Aber, sagt Claudio, es wäre ja auch „etwas arrogant von uns“: Erst versauten wir „zu Hause total unsere Umwelt, kommen hierher und halten schlaue Reden“. Und dies: „Wenn du hier Müll rumliegen siehst, sind das oft Joghurtbecher und Müslipackungen – und das würde kein Einheimischer je anrühren.“

Saison ist von Oktober bis Mai. Jedes Jahr wird es spürbar voller. In den Ferien wissen die Urlauber oft nicht mehr wohin – und mieten sich für die erste Nacht einen Leihwagen als Notdach überm Kopf, in den Weihnachtsferien entstand an der Playa Inglés schon mal eine Notzeltstadt, bis die Guardia Civil alle verjagte. Noch gibt es kein Hochhaus und kein Hotel, aber seit vergangenem Jahr erste Satellitenschüsseln (mit Empfang von SWF 3). Statt einer Früh- und einer Abendfähre von/nach Teneriffa fahren jetzt drei Schiffe zusammen elfmal täglich. Neben dem museumsreifen Oldtimerbus fährt neuerdings ein zweites Luxusgefährt. Es gibt Speisekarten auch in deutsch, Mountainbikeverleih, Kino und organisierte Touren aller Art. Alles vor ein paar Jahren noch undenkbar. Aus dem verschlafenen Kaff am Ende der Welt ist fast schon ein richtiger Urlaubsort geworden.

Gut für Leute wie Capitano Claudio, die von Urlaubern leben?! „Nein, nein“, dementiert er mit Eifer, „wir alle sind ja nicht hierhergekommen, um Big Business zu machen. Wir wollten dem deutschen Rummel, dem Konsum, der Leistungsgesellschaft entfliehen. Und irgendwas hier machen, um davon leben zu können. Punkt! Und wir leben jetzt schon gut.“ „Nur“, sagt Claudio, „ganz unmerklich sind wir zu einem Teil der Geschäftswelt geworden. Irgendwo holt einen der ganze Konsumismus doch wieder ein.“

Bestes Beispiel: Thomas Müller, el fotógrafo, der Fotograf. Er war einer der allerersten Valle- „Entdecker“, vor fast zwanzig Jahren, als er die Insel knipste, erste Ansichtskarten und Dia-Vorträge machte. „Sein Problem heute“, sagt Capitano Claudio, „er lebt in anderen Dimensionen, er ist zu erfolgreich und schafft sich dadurch Neider und Feinde.“ Sonst sei er „eigentlich ein netter Kerl...“.

Claudios Verschlag am Hafen ist auch Anzeigenannahmestelle und Redaktionsstube der neuen deutschsprachigen Zeitung namens Valle-Bote, einer pfiffigen, unterhaltsamen und vor allem selbstironischen Vierteljahreszeitung („unabhängig – überparteilich – abgedreht“), dem Blatt der „ethnischen deutschen Minderheit auf Gomera“, wie Capitano Claudio es nennt. Und da bekam Thomas Müller von Claudio und Co. zuletzt volle publizistische Breitseite: Der „Multimedia-Tausendsassa“ habe mit seinen neuen Geschäftsideen als „Müllers Mischkonzern mal wieder entdeckt, was ihm richtig Spaß macht: nämlich Geldverdienen“.

Gomera als Paradies? Wenn man in die Gesichter der ansässigen Deutschen guckt, entdeckt man oftmals Zeichen von Hektik, Nervosität. Sicher, ein Dasein als Wirt, Händler oder Reiseführer bringt auch im ewigen Frühling Sorgen und Streß. Aber da ist noch etwas anderes: Vor fünfzehn Jahren sind sie ausgestiegen, jetzt unmerklich, nur an anderem Ort, wieder eingestiegen. Und: Wie geht es weiter – mit vierzig Jahren statt mit naiven Anfang Zwanzig?

Deutschland ist vielen fremd geworden, gleichzeitig sind die Verbindungen zu den Kanaren ohne kulturelle Wurzeln. Keine Heimat, kein Zuhause irgendwo: „Manche“, sagt Claudio, „sind seit den siebziger Jahren hier, leben völlig im Ghetto und sprechen bis heute kaum ein Wort Spanisch. Andere kriegen alle paar Monate einen Koller und fliegen mal eben eine Woche nach Deutschland, zum Shoppen oder Freundebesuchen.“ Im Valle-Boten schrieb kürzlich eine, die nach zehn Jahren ihre Sachen packte: „An der Playa Maria waren wir alle eine große Familie. Wir aßen, sangen, tanzten, tauschten Gedanken aus, philosophierten, machten Musik – bis Ihr eines Tages anfingt, vom Geld zu träumen. Wir waren so schön verrückt. Was wollt Ihr nun Euren Kindern hinterlassen? Ansichtskarten?“

Jahr für Jahr kommen neue, oft sehr junge Aussteigewillige mit einem Rucksack voll der ganz großen Illusionen. „Die stellen sich das so toll und einfach vor“, sagt Claudio. „Ihr großes Problem nur: Sie haben keine Knete. Dann fragen sie mich nach Jobs. Gebraucht werden immer Handwerker, nur kann das fast niemand. Mit den Wochen kommt dann echt die Frage, wie überlebe ich, vor allem bei alleinerziehenden Müttern. Die denken vorher: Alles ist ja so billig auf Gomera. Ein Zimmer kostet nur 15 oder 20 Mark pro Tag, aber dann wundern sie sich, daß da im Monat leicht 500 Mark draus werden. Wer in Deutschland kein Bein auf die Erde kriegt, der kriegt es hier erst recht nicht. Und daher kommt viel Frustration, Neid, Unzufriedenheit.“

Und, davon künden die unzähligen Pinn-Zettel in den Kneipen, mit immer neuen Versuchen zur Geldbeschaffung: Verkauf von abenteuerlich kitschigem bis hilflos hippiehaftem Schmuck, Reiki-, Massage- und Selbsterfahrungsangebote ohne Ende. Und da sind längst auch kleinere Diebstähle in den Bars an der Tagesordnung und diesen Winter der erste ungetarnte deutsche Bettler („Haste mal 'ne Pesete für mich...“).

Das Valle ist seit einigen Jahren eine einzige Baustelle. Stück für Stück werden die 15 Kilometer Steilserpentinen begradigt, ausgebaut und durch zwei Tunnelabschnitte (beide jetzt fertig) ersetzt. Gomera pauschal ist bei allen großen Reiseveranstaltern längst im Programm. Und wenn der Flughafen bei Santiago erst fertig ist (vermutlich Anfang 1996), dann, sagen viele, brechen alle Dämme. Die Landepiste ist mittlerweile betoniert, die Zufahrtsstraßen fertig, es fehlen nur noch Abfertigungsgebäude und Technik. „Millionenweise sind da EU-Gelder verknallt worden“, sagt Claudio, „aber irgendwo müssen die Mittel ja bleiben, noch mehr Straßen können sie ja kaum bauen: Schade, daß die Politiker hier nicht komplett alles in die eigene Tasche stecken, dann bliebe nichts mehr für Asphalt und Beton. Denn alles, was hier gebaut wird, ist für die Insel schädlich, jede Pesete.“

Gomera dem Ende nah?

„Wir haben das große Glück“, sagt der CC vom Valle, „daß auf Gomera alles sehr langsam geht. Sicher, da kommen dauernd Leute her, nach langer Zeit, und jammern: ,Ooooh, vor zehn Jahren war es hier aber viel schöner.‘ Aber sag mir ein Land auf der Welt, wo es vor zehn Jahren nicht schöner war, unberührter, weniger versaut?“ Auf Gomera herrscht, mehr noch als anderswo in Spanien, das Mañana-Prinzip. Was nicht heißen muß: morgen. Sondern: irgendwann oder eben gar nicht.

Capitano Claudio erzählt von einem Gespräch mit Valle-Bürgermeister Estebán Bethencourt. „Ihr Deutsche“, habe der gesagt, „kommt hierher, um ein Paradies zu suchen. Ihr wollt weg zu Hause, und manche bleiben ganz. Schön. Aber die Leute hier mußten jahrhundertelang von hier weg Richtung Südamerika, weil sie hier keine Arbeit und nix zu essen hatten. Jetzt kommt Tourismus, und zum ersten Mal haben die Gomeros die Möglichkeit, ganz normal da zu leben und Geld zu verdienen, wo ihre Heimat ist.“ „Ja“, sagt Claudio, „daß die zweitausend spanischen Einwohner im Valle, die erst vor zwanzig Jahren elektrisches Licht bekommen haben, eine ganz andere Einstellung haben als wir Aussteiger, das sollten wir immer, immer akzeptieren.“

Draußen ist es Abend geworden. In Borbalán quaken die Frösche, wie eine Festung liegt das gelblich-karg beleuchtete Calera am Hang, die Bananenhaine wiegen sich im milden Abendwind, und am Häusereck unter dem leuchtenden Sternenzelt knutscht hingebungsvoll ein frischverliebtes Paar. Es gibt diese paradiesischen Momente im Valle. Nach wie vor. Aber es wird der Tag kommen, an dem Gomera unbesuchbar wird. Wann das ist, läßt sich ganz genau sagen: mañana.

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