piwik no script img

Die Ungnade der Geographie

Das ehemalige Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, das vor 50 Jahren befreit wurde, spielt im Kollektivbewußtsein der Fürstenberger keine Rolle mehr  ■ Von Peter Lerch

Fürstenberg (Havel) steht in Frakturschrift auf dem verwitterten Ortsschild des achtzig Kilometer nördlich von Berlin gelegenen Bahnhofs. In der kleinen düsteren Bahnhofshalle wirbt die Gaststätte „Zur Dampflok“ für Soljanka mit Brot zu zwei Mark vierzig, und im Schaukasten nebendran hängt ein Plakat mit einer Luftaufnahme der Baracken des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück.

Vor dem Bahnhof verschläft der örtliche Taxifahrer die wenigen Ankömmlinge, die eigens wegen der zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt gelegenen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück das Havelörtchen aufsuchen. Die Hauptstraße und Lebensader von Fürstenberg, die auf ihrer Länge von etwa einem Kilometer dreimal ihren Namen ändert, führt direkt zu dem ehemaligen Konzentrationslager, in dem die Nazis zwischen 1939 und 1945 mehr als 96.000 Frauen und Kinder ermordet haben.

Ein Touristenwegweiser preist Fürstenberg als „das Tor zur Mecklenburger Seenplatte“, gerade so, als wolle die 5.000-Seelen- Gemeinde die landschaftliche Schönheit gegen die erschütternde Präsenz des ehemaligen Konzentrationslagers in die Waagschale werfen. Doch Fürstenberg ist nicht das, was man als ein blühendes Tourismuszentrum bezeichnen könnte. Erwerbslosigkeit und Langeweile prägen den Alltag in der achtundvierzig Straßen und Gassen umfassenden Kleinstadt, die im wesentlichen aus einer evangelischen Kirche, einem Krankenhaus, einem Postamt zwei Parkplätzen, Gerdis Frisierparadies und einer Vollblutzucht besteht. Sich fünfzehnmal um eine Lehrstelle zu bewerben, ohne letztlich einen anderen Job zu ergattern als einen miserabel bezahlten Posten im Straßenbau, ist die übliche Perspektive der Fürstenberger Jugendlichen, fünf Jahre nach der Wende. „Allein durch den Abzug der Russen haben hier sechshundert Menschen ihre Arbeit verloren“, klagt Amtsdirektor Raimund Aymanns. Der Chef von vierzehn Gemeinden im Landkreis bringt die Probleme in der Umgebung von Fürstenberg auf einen einfachen Nenner: Arbeitsplatzverlust, Kaufkraftverlust und Investitionsbedarf. Vor diesem Hintergrund wird der Konflikt verständlich, der die Fürstenberger Mitte des Jahres 1991 ins öffentliche Gerede und international in Verruf gebracht hatte. Vor vier Jahren wollte die zur Tengelmann-Gruppe gehörende Supermarktkette Kaiser's eine Filiale auf dem Kartoffelacker des ehemaligen Konzentrationslagers errichten. Die Fürstenberger, mit günstigen Einkaufsmöglichkeiten nicht gerade üppig ausgestattet, hatten sich gefreut. Schließlich versprach der Supermarktflachbau außerdem sechzig Arbeitsplätze. Doch dann hagelte es Proteste. Die Straße, an der große Plakate für den günstigen Einkauf warben, sei von inhaftierten Frauen des Lagers Ravensbrück gebaut worden, monierten Überlebende aus allen Teilen der Welt – zu Recht. Unter den Pflastersteinen der Zufahrtsstraße zum Lager lägen noch die Knochen und die Asche der verbrannten Opfer aus dem Krematorium. Deren Andenken würde durch die Errichtung des Konsumtempels an dieser Stelle entehrt.

Die Fürstenberger konnten und wollten dieser Argumentation nicht folgen. Unter dem Motto „Fürstenberg muß leben“, machten sie geltend, daß man schließlich nicht den ganzen Ort zum Museum umwandeln könne. Zuviel Geschichte für so einen kleinen Ort? Vor der Wende habe die Sowjetarmee auf dem Gelände geübt, argumentierten die Einwohner. Im Rahmen der DDR-Geschichtsaufarbeitung hätten sie zudem jedes Jahr zur Gedenkstätte marschieren müssen. Damals habe man an der heute umstrittenen Baustelle Würstchen verkauft. Durch die internationalen Proteste alarmiert, verzichtete der Tengelmann-Konzern auf den Supermarkt.

Mittlerweile scheint der Konflikt aus dem Bewußtsein der Fürstenberger ebenso verbannt zu sein wie das ehemalige Lager. Die Menschen haben andere Probleme. Schon früh um zehn hocken Betrunkene vor dem Rathaus. Ich frage einen der vom morgendlichen Bierkonsum ganz rotgesichtigen Kerle, ob die Mahn- und Gedenkstätte eine Bedeutung für ihn habe. Statt einer Antwort sagt er „Hähh?“ und schnippst Papierkügelchen nach mir. Auch für den Inhaber der Minol-Tankstelle am Ortsausgang scheint die Gedenkstätte nichts Besonderes zu bedeuten. „Ab und zu kommt mal einer und fragt“, räumt er zögernd ein. Ansonsten habe man sich an die Gedenkstätte gewöhnt. Der katholische Priester, der sein Gotteshaus in der Bahnhofstraße betreibt, ist auch nicht auskunftsfreudiger. Auf die Frage, wie er als Seelenhirte die Stimmung unter den Einheimischen hinsichtlich der Gedenkstätte einschätzt, reagiert er auffallend abweisend. „Da müssen sie sich an meinen evangelischen Amtskollegen wenden. Der hat ein SPD-Parteibuch“, verrät er. „Wissen sie, mit Politik habe ich nichts zu tun.“ Inwiefern 96.000 von den Nationalsozialisten durch Menschenexperimente, Zwangsarbeit, Genickschüsse und in Gaskammern ermordete Frauen und Kinder eine kommunalpolitische Frage seien, die etwas mit dem Parteibuch zu tun habe, kann oder will er mir nicht beantworten.

Sein Amtskollege Wolfgang Erdmann von der evangelisch-lutherischen Gemeinde ist der Auffassung, daß die Fürstenberger Bevölkerung noch immer weitgehend in ihrer „Verdrängungshaltung“ gegenüber der Mahn- und Gedenkstätte verharre. Allerdings habe es seit den Auseinandersetzungen um den Supermarkt erste behutsame Annäherungen zwischen Fürstenbergern und ehemaligen KZ-Häftlingen gegeben. „Seit 1992 bemüht sich unsere Gemeinde verstärkt um einen Dialog zwischen Ureinwohnern und Häftlingsfrauen“, erzählt der Pastor. So veranstalte die Gemeinde gemeinsam mit der Aktion Sühnezeichen ein jährliches Sommercamp.

Darüber hinaus lade man immer wieder ehemalige Häftlinge zu Veranstaltungen, wie gemeinsamen Adventsfeiern ein. „Bei einer dieser Veranstaltungen ist ein alter Fürstenberger aufgestanden und hat erklärt, daß er sich bei den ehemaligen KZ-Häftlingen für das Leid entschuldigen möchte, das von seiner Generation ausgegangen ist“, berichtet Wolfgang Erdmann. Der Mann war der heute 84jährige Emil K., dessen Familie in Fürstenberg eine Tischlerei betrieb. „Auch wenn man selbst nichts gemacht hat“, sagt K., „fühlt man sich sehr schuldig.“ Emil K. war auf leise Art anständig geblieben. Den vier Häftlingen, die in der Tischlerei arbeiten mußten, half seine Familie mit Essen.

Viele der alten Fürstenberger jedoch, meint Pfarrer Erdmann, seien mit dem Komplex Ravensbrück für alle Zeiten fertig. Vor allem diejenigen, die 1945 nach der Befreiung des KZs von den Russen von der Straße weg geholt und gezwungen wurden, im Lager aufzuräumen. Dort waren sie dem Haß und der Verzweiflung der Überlebenden ausgesetzt. Der Weg zur Mahn- und Gedenkstätte führt über die Hauptstraße, wo vor dem Fürstenberger Bestattungshaus drei Vorschulkids die „turn“-Kicks vom letzten Kung-Fu-Film aneinander ausprobieren. An einem grau gestrichenen Tor mit weißen Sternen, der ehemaligen Garnisonswerkstätte der Sowjetarmee vorbei, kommt man zu einem Bronzedenkmal: drei ausgemergelte Frauengestalten, die auf einer Bahre eine Kinderleiche tragen. Ein Stück weiter befindet sich die Straße der Nationen. Ein Schild aus DDR-Zeiten weist darauf hin, daß die Straße zwischen 1939 und 1945 von Häftlingen gebaut wurde. Auf der rechten Seite leuchtet das rote Flachdach der 3.000 Quadratmeter großen Einkaufshalle, nunmehr selbst ein historischer Ort: ein Mahnmal gegen Geschäftssinn am falschen Ort zur falschen Zeit. Eine Reihe gelber Mehrfamilienhäuser mit hübschen Balkons säumen die letzten Meter zur ehemaligen KZ-Kommandantur. In diesen Häusern lebten die überwiegend weiblichen SS-Wächter in kleinbürgerlicher Idylle, während ein paar Meter weiter Frauen aus zwanzig Ländern durch Arbeit vernichtet, erschossen, vergast und bei medizinischen Versuchen ermordet wurden. Amtsdirektor Aymanns will die meisten Unterkünfte abreißen lassen. „Hier diese anheimelnde Architektur und daneben der totale Wahnsinn! Wen soll man da wohnen lassen?“ fragt er und kritzelt mit dem Bleistift gedankenverloren die SS-Quartiere aus der Fürstenberger Landkarte. Er erzählt, daß es inzwischen Überlegungen gibt, einen Teil der Häuser sozial- karitativ, kulturell und wissenschaftlich zu nutzen. In einer von Edith Sparmann, der Generalsekretärin des Internationalen Ravensbrückkomitees, sowie von Sigrid Jacobeit von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und drei Politikerinnen unterstützten „Ravensbrückinitiative 1994“ fordern die Unterzeichnerinnen, in diesen Häusern eine Begegnungsstätte für „Menschen aus allen Teilen Europas“ einzurichten.

Meine Versuche, Frau Dr. habil. Sigrid Jacobeit, die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte nach ihrer Einschätzung des Verhältnisses der Fürstenberger zu ihrem geschichtsträchtigen Erbe zu befragen, erweisen sich als kompliziert. „Da müssen sie erst eine Genehmigung vom Sekretariat der Pressestelle der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten haben“, heißt es im Verwaltungsflügel der Ravensbrücker Gedenkstätte. Auf Nachfrage bei der Stiftung kriege ich diese Erlaubnis nicht. Die Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte sei nicht befugt, Auskünfte zu erteilen. Dies sei ausschließlich Vorstandsmitgliedern vorbehalten. In Ministerien werde das schließlich so ähnlich gehandhabt. Dementsprechend gibt mir ein in Oranienburg ansässiger Professor Dittberner Auskunft über das Verhältnis der Einwohner des fünfzig Kilometer entfernten Fürstenberg zu ihrer Gedenkstätte: „Ambivalent.“ Vom 22. bis zum 24. April ist Europa zu Gast in Fürstenberg. Rund 1.300 ehemalige Häftlinge sowie Gäste aus dem In- und Ausland werden anreisen, wenn des 50. Jahrestages der Befreiung des KZs Ravensbrück gedacht wird. Bundestagspräsidentin Süssmuth, Bundesfamilienministerin Nolte, der Brandenburger Ministerpräsident Stolpe und der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, werden Reden halten. Und auch die Fürstenberger werden ihnen zuhören.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen