: Die eine Hand nimmt, was die andere gibt
■ Rumäniens Wirtschaftspolitik ist konzeptionslos / Massenstreiks allerorten
Bukarest (taz) – Rumäniens Staatspräsident Ion Iliescu hat einen neuen inneren Feind ausgemacht: den „Anarchosyndikalismus“. Der stürze „das Land ins Chaos“, behauptet er. Anlaß der präsidentialen Polemik sind die seit Monaten andauernden Streiks und Demonstrationen, mit denen die rumänischen Gewerkschaften gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung protestieren. Vorläufiger Höhepunkt der Aktionen waren in der vergangenen Woche landesweite Gewerkschaftsaktionen und eine Großdemonstration vor dem Bukarester Regierungspalast, die beinahe in Gewalttätigkeiten gegen Polizei und Ordnungskräfte umgeschlagen wäre.
Ausgelöst haben die massivsten Gewerkschaftsproteste der letzten Jahre Preiserhöhungen für Benzin und andere Energieträger Anfang April sowie ein Sondererlaß der Regierung. Der sieht vor, die Löhne in den Staatsbetrieben einzufrieren. Beides sind Teile eines Maßnahmenpaketes, mit der die rumänische Wirtschaft stabilisiert und die Inflation niedriggehalten werden soll.
Dabei verweist die Regierung auf die bisherigen Erfolge ihrer „Austeritätspolitik“: Die Inflation konnte von mehr als 300 Prozent im Jahre 1993 auf knapp 70 Prozent im letzten Jahr gedrückt werden und soll dieses Jahr nicht mehr als 29 Prozent betragen. Das Bruttonationalprodukt stieg 1994 zum erstenmal wieder an – um 3,4 Prozent. Damit liegt es allerdings immer noch 50 Prozent unter dem Niveau von 1989.
Unabhängige Ökonomen sehen die Erfolge jedoch nur als vorübergehend an. Sie halten der Regierung vor, daß sie bisher nicht bereit gewesen ist, umfangeiche marktwirtschaftliche Reformen wie Restrukturierung und Privatisierung der Staatsbetriebe durchzuführen. Statt dessen wurden die zumeist hochverschuldeten Staatsbetriebe mit Krediten und Subventionen aus dem Haushalt am Leben erhalten. Das habe nicht zu einer Produktionssteigerung, sondern nur zu hoher Inflation geführt, monieren die Experten.
Tatsächlich sind 1994, von der Regierung einst als „Großes Jahr der Privatisierung“ angekündigt, laut einer offiziellen Bilanz nur zehn Prozent der 6.000 Staatsbetriebe verkauft worden. Und ein Ende März vom Parlament verabschiedetes „Gesetz über die Zahlungsunfähigkeit“ sieht vor, bankrottgefährdeten Staatsbetrieben Vorzugskredite aus dem Haushalt zu gewähren.
Aufgrund dieser Praxis hat sich die rumänische Regierung mittlerweile auch beträchtlichen Ärger mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank eingehandelt, deren Kredite das Land für die wirtschaftliche Stabilisierung dringend benötigt. Im Namen beider Finanzorganisationen schlug die rumänische Weltbank- Vertreterin in Bukarest, Artraud Hartmann, kürzlich vor versammelter Presse mit der Faust auf den Tisch und kündigte an, daß alle Kredite vorerst gesperrt würden. Die Regierung habe ihr Versprechen, die Wirtschaft zu restrukturieren und zu privatisieren nicht eingehalten, begründete Hartmann den Schritt.
Doch auch die Geduld der rumänischen Gewerkschaften ist am Ende. Mit dem Kompromiß, den die Regierung nach den Riesendemonstrationen vorlegte, nämlich die Löhne in den Staatsbetrieben in diesem Jahr um zehn Prozent zu erhöhen, wollen sich die meisten Gewerkschaften nicht zufriedengeben. Für den Fall, daß die Regierung ihren Sondererlaß über die Lohneinfrierung nicht vollständig zurücknimmt, haben sie einen Generalstreik angekündigt. Keno Verseck
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