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Ende einer Deutschlandfahrt

Die mißglückte Flucht der Wehrmachtsdeserteure Konrad H. und Georg J. und das Todesurteil des Freiburger Sondergerichts. Ein Protokoll von  ■ Michael P. Hensle

Während sich Versöhnungsbekundungen von Politikern mehren, in Remagen alliierte Veteranen und einstige Wehrmachtsangehörige einträchtig des 50. Jahrestags der Einnahme der Remagener Rheinbrücke durch amerikanische Truppen gedenken, ist auch eine andere Debatte in Gang gekommen: Wie hält es, 50 Jahre nach Kriegsende, die Bundesrepublik Deutschland mit den Wehrmachtsdeserteuren?

Die Frage wirft ein moralisches und juristisches Problem auf. Mindestens 30.000 Todesurteile wurden allein von NS-Militärgerichten gegen Soldaten verhängt – wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung.

Bezüglich der Verschwörer des 20. Juli gibt es Konsens. Ihr „Verrat“ war Rechtens, ihr Eidbruch legitim. Aber Deserteure? Waren das nicht alles Drückeberger, Feiglinge, Vaterlandsverräter?

Eine Untersuchung von fünfhundert Protokollen der Schweizer Militärbehörden über in die Schweiz geflüchtete deutsche Deserteure ergab: Hauptgründe für Flucht waren zu 19 Prozent Kriegsmüdigkeit, rund 16 Prozent Angst vor Bestrafung, 15 Prozent Opposition zum Nationalsozialismus. Persönliche oder familiäre Gründe wurden nur zu 7 Prozent angegeben.

Wie wenig repräsentativ die Studie auch sein mag, so läßt sich gleichwohl sagen: Der bewußte politische Widerstand gegen das NS- Regime stand nicht im Vordergrund. Eher waren es diese Soldaten leid, weiter den Kopf hinzuhalten für einen „Endsieg“, an den sie nicht (mehr) glaubten. Oftmals verlangte eine solche Entscheidung – gleich aus welchen Motiven – mehr Mut, als weiterhin den Befehlen zu gehorchen.

Die Wirkung des soldatischen Ungehorsams blieb, verglichen mit dem Ersten Weltkrieg, gering. Das Meutern ganzer Truppenteile wie im November 1918 hatten die Nationalsozialisten zu keiner Zeit zu befürchten. Der Historiker Gerhard Paul, der jüngst eine Studie zum Thema soldatische Verweigerung im Saarland vorgelegt hat, führt denn auch aus: „Ungehorsame Soldaten waren Sandkörner im Räderwerk der militärischen Mordmaschinerie, nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Je länger der Zweite Weltkrieg andauerte, je mehr deutsche Einberufungsjahrgänge ausbluteten, desto rücksichtsloser griff das Regime auf zusätzliche Rekrutierungsquellen zurück. Es wurde selbst nicht davor zurückgeschreckt, französische Offiziere aus Elsaß-Lothringen durch Haft in Konzentrationslager zum deutschen Kriegsdienst zu pressen. In den besetzten Gebieten Osteuropas wurden vornehmlich „Volksdeutsche“ rekrutiert. Außer den nachweisbar Deutschstämmigen kamen auch noch „Eindeutschungsfähige“ in Frage.

In seinem völkischen Wahn hatte der Reichsführer SS Heinrich Himmler als „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ zur „Germanisierung“ und „Umvolkung“ der annektierten Ostgebiete auch die „Deutsche Volksliste“ eingeführt. Es handelte sich dabei um ein perfides System politischer, rassistischer und sozialer Hierarchisierung, das unter anderen vier Volkslistengruppen umfaßte. So wurden beispielsweise den Angehörigen der Gruppe eins und zwei die deutsche Staatsbürgerschaft zuteil, während die Gruppe drei diese nur auf Widerruf erhielt.

Der Soldat diene dem Vaterland, heißt es doch. Daß der Dienst in der Wehrmacht ein Dienst am Vaterland gewesen sei, darf heute mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zweifel kamen damals schon auf, bei „Reichsdeutschen“ – und um so mehr bei Angehörigen der Deutschen Volksliste. Welchem Vaterland sollten sie eigentlich dienen?

Der nachfolgend geschilderte Fall handelt davon:

Es war der 8. Februar 1943, eine Woche zuvor hatte die 6. Armee in Stalingrad kapituliert, als der 21jährige Bergmann Konrad H. aus Michalkowitz/Kattowitz und der ebenfalls 21jährige Georg J., Schlosser aus Ostrowo/Warthegau, beide Angehörige der Deutschen Volksliste, heimlich ihre Arbeitsstätte verließen. Sie hatten zwei Kompasse, eine aus dem Schulatlas herausgerissene Karte von der Schweiz und ein Teilstück einer Westfrontkarte bei sich und fuhren zuerst mit der Bahn von Michalkowitz nach Beuthe, dann über Breslau nach Stuttgart, wo sie sich noch eine Straßenkarte von Südwestdeutschland kauften.

Um ihr Reiseziel in der Schweiz nicht zu verraten, lösten sie in Stuttgart Fahrkarten nach Freiburg und fuhren am Abend noch nach Villingen, wo sie im Wartesaal übernachteten. Am Tag darauf benutzten sie die Bahn bis Donaueschingen, stiegen um und fuhren bis Hüfingen. Dort begannen sie ihren beschwerlichen Fußmarsch. Und tatsächlich: Auf diese Weise gelangten die Flüchtenden bis Riedöschingen nahe der Schweizer Grenze, wo sie in einer Gastwirtschaft einkehrten. Der dort zugleich als Landwachmann tätige Gastwirt, dem sie verdächtig vorkamen, nahm ihnen die Wehrpässe ab und verständigte die Gendarmerie. Diese nahm die beiden Angehörigen der Deutschen Volksliste in Arrest. In der Nacht konnten sie noch einmal ausbrechen, wenig später jedoch wurden sie von einem Wachsoldaten gestellt. Das Scheitern ihrer Flucht brachte sie am 3. Juni 1943 vor das Freiburger Sondergericht.

Die Sondergerichte, ursprünglich zur Ahndung politischer Delikte eingerichtet, dann auch für viele Fälle „normaler“ Kriminalität zuständig, sollten, so der spätere Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler, zu „Standgerichten der inneren Front“ werden. Eines dieser Sondergerichte war das Sondergericht Freiburg. Das am 3. Juni 1943 tagende so genannte Sondergericht, das am selben Tag bereits ein Todesurteil verhängte, äußert sich zum Angeklagten Konrad H. wie folgt: „Die Familie, deren Umgangssprache Polnisch ist, gilt politisch nicht als einwandfrei. H. hat in einer polnischen Jugendorganisation eine vormilitärische Ausbildung genossen. Die Familie hatte sich auf der Kennkarte zum Polentum bekannt; deshalb wurden H. in seiner Arbeitsstelle auch 15 Prozent des Lohnes einbehalten. Auf Veranlassung seiner Mutter wurde er mit Wirkung vom 1. November 1942 auch in die Abteilung 3 der Deutschen Volksliste aufgenommen, wodurch er die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf erhielt. Die Lohnkürzung fiel dadurch weg. Er kam sodann zur Musterung und wurde vom Wehrbezirkskommando Kattowitz als kriegsverwendungsfähig zur Ersatzreserve I eingeteilt.

Eine gerichtliche Strafe hat er nicht erhalten.“

Zu dem Angeklagten Georg J. führt das Gericht aus: „Seit 1936 gehörte er einer polnischen Jugendorganisation (Pfadfinderverband) an, in der er politisch und vormilitärisch ausgebildet wurde. Sein Vater, Mitglied des polnischen Aufständischen Verbandes, beteiligte sich bei Beginn des Polenfeldzuges an Kampfhandlungen gegen deutsche Freikorpskämpfer, wurde deshalb in das Konzentrationslager Dachau verbracht, wo er am 13. Februar 1940 verstarb... Seinem (den des J., der Verf.) gestellten Antrag, mit dem er 15 Prozent Abzug vom Lohn entgehen wollte, wurde stattgegeben, wodurch er die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf erhielt.“

Nach diesen Ausführungen zur Person skizziert das Sondergericht die vermutlichen Fluchtmotive: „Da sie sich innerlich noch als Polen fühlten und ihre Einziehung zur deutschen Wehrmacht befürchteten, beschlossen sie, gemeinschaftlich ihre Arbeitsstelle zu verlassen und nach der Schweiz zu fliehen.“

Das Gericht sieht den Tatbestand der Wehrpflichtentziehung gegeben. Unter Anwendung der „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ von 1938 wären die Angeklagten zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden, hätten sie sich nicht nach Auffassung des Gerichts des weiteren als „Gewaltverbrecher“ gezeigt.

Diesen zusätzlichen Tatbestand sah das Sondergericht in den Tätlichkeiten gegen den Gefreiten T., Wachsoldat der Landesschützenkompanie 427, erfüllt, dem die beiden Flüchtenden in die Arme liefen. Zunächst gelang es ihnen, das Gewehr des Gefreiten unter Schlägen zu entreißen, doch dann gaben sie es ihm überraschenderweise zurück:

„Die Angeklagten wollten es erst in einer Entfernung von 200 Meter niederlegen, wobei T. ihnen hätte nicht folgen dürfen. Schließlich gaben sie es sofort ab, als dieser versicherte, er werde sie laufenlassen. Als der Gefreite wieder im Besitz seines Gewehres war, rief er den sich entfernenden Angeklagten „Halt!“ zu und schoß, als sie diese Warnung nicht beachteten, ihnen nach. Dabei traf er den Angeklagten H., worauf J. sich in den Graben warf und sodann ohne Widerstand festnehmen ließ.“

Was an sich Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung ist, wird als schwere Gewalttat im Sinne der „Gewaltverbrecherverordnung“ von 1939 interpretiert, wobei das Gericht keine Zweifel an der von der Verordnung geforderten Schwere der Tat hegt:

„Sie ist nach dem gesunden Volksempfinden als eine schwere Gewalttat im Sinne des § 1 der Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. XII. 1939 anzusehen. Daß sie den in dieser Strafbestimmung besonders angegebenen Straftaten ähnlich geartet sein muß, ist nicht Erfordernis. Es genügt, wenn sie als ,schwer‘ in der schon angegebenen Richtung und nach den ganzen Umständen bezeichnet werden muß.“

Wie auch hinsichtlich der Schwere der Gewalttat das Gericht keinen Interpretationsbedarf vorliegen sieht, sondern nach dem „gesunden Volksempfinden“ bemißt, so ist gleichermaßen der Begriff der Anwendung anderer, den Schuß-, Hieb- oder Stoßwaffen gleich gefährlichen Mittel, wie sie die Verordnung fordert, nach Ansicht des Gerichts nicht zu eng zu fassen:

„In der Rohheit und Gewalttätigkeit, verbunden mit der genauen Überlegtheit ihres Planes, beginnend mit der Verabredung in der Heimat, Ansammlung von Ersparnissen, Kauf von Kompassen und Karten, Mitnahme von Messern und Sägefeile, polizeilicher Abmeldung (von) J., Lösung einer Fahrkarte nach einem anderen Fahrziel bis zur Ausrede einer Beschäftigung bei der Bahn und bei einer Donaueschinger Firma und schließlich zur Verständigung in polnischer Sprache unmittelbar vor der Tatausführung, haben sich auch die Täter trotz ihrer Jugend und bisherigen Straflosigkeit als Gewaltverbrecher gezeigt. Bei ihrem Vorgehen haben sie auch den in § 1 der Gewaltverbrecherverordnung benannten Begriff der Anwendung ,anderer gleich gefährlicher Mittel‘, der nicht zu eng zu fassen ist, erfüllt.“

Hätte das Sondergericht zur Urteilsfindung nur die „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ herangezogen, wären die Angeklagten mit einer Zuchthausstrafe von fünf Jahren davongekommen. Über die Anwendung der „Gewaltverbrecherverordnung“ und die Kennzeichnung der Angeklagten als „Gewaltverbrecher“ gelangt das Sondergericht zur Verhängung der Todesstrafe. Während Konrad H. wenige Wochen später im Lichthof des Stuttgarter Justizgebäudes mit dem Fallbeil hingerichtet wurde, ist Ort und Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung an Georg J. den Akten nicht zu entnehmen.

Auch wenn das Todesurteil aufgrund der Gewaltverbrecherverordnung ausgesprochen wurde, so ging es doch letztlich um die versuchte Wehrpflichtentziehung. Wie viele Angehörige der Deutschen Volksliste sich dem Kriegsdienst in der Wehrmacht zu entziehen suchten ist nicht bekannt, ebensowenig, wie viele in ihr dienten, umkamen oder nach dem Krieg Bundesbürger oder Bürger der DDR wurden. Der vorliegende Fall zeigt nicht nur, wie die Gerichte der Nationalsozialisten über juristisch zweifelhafte Konstruktionen zu Todesurteilen gelangten, sondern stellt auch ein individuelles Beispiel von Verweigerung des Kriegsdienstes für die deutsche Wehrmacht dar. Dabei führt der Sachverhalt, daß die Verurteilten polnische Angehörige der Deutschen Volksliste waren, über eine bloß interne Debatte der Deserteurs-Problematik hinaus und berührt das schwierige deutsch-polnische Verhältnis. Auch heute noch wird bei den Anerkennungsverfahren von Aussiedlern die Deutsche Volksliste eines Heinrich Himmlers herangezogen. Und eine Bundesrepublik, die sich so schwertut mit der doppelten Staatsbürgerschaft, hat keine Probleme damit, daß Tausende polnischer Bürger mit deutschem Paß in den ehedem deutschen Ostgebieten leben.

Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“, die von der NS-Militärjustiz verurteilt wurden, sollen nach dem Willen des ganzen Bundestages rehabilitiert und entschädigt werden. Allerdings sperren sich CDU/CSU und FDP dagegen, alle Militärrichter zu verdammen.

Ein gutes Signal ist, daß der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt zum 7. Mai 1995 ausdrücklich die Vertreter der überfallenen Nachbarstaaten eingeladen hat, darunter auch Polen. Nicht Versöhnung erwarten, sondern Geschichte annehmen: der Vertreibung der Deutschen im Osten ging der Angriffskrieg der Wehrmacht voraus. Es wird noch lange dauern, bis das deutsch-polnische Verhältnis die Normalität eines deutsch-französischen erlangt.

Und bis dahin haben die Worte des Schriftstellers Erich Loest ihre Berechtigung: „Polen ist unser schwierigster Nachbar und deshalb unser wichtigster.“

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