: Sterben als Sport
■ Die letzten Tage des Krieges - eine taz-Serie (letzter Teil) / Kurz vor Kriegsende werden über 2.000 Hitlerjungen in ein sinnloses Gefecht um das Reichssportfeld geschickt / Bis heute fehlt jeder Hinweis auf die...
„Allen Spiels heilger Sinn, Vaterlands Hochgewinn. Vaterlands höchst Gebot, in der Not Opfertod.“ Diese Worte ließ der Organisator der Olympiade von 1936, Karl Diem, zur Eröffnung der Spiele im Berliner Olympiastadion rezitieren. Knapp neun Jahre später, vier Tage vor der Kapitulation Berlins, wurden zweitausend Hitlerjungen in ein militärisch völlig sinnloses Gefecht geschickt, um das Reichssportfeld neben dem Olympiastadion von der Roten Armee zurückzuerobern. Die meisten von ihnen verloren hierbei ihr Leben.
Russische Truppen waren von der Heerstraße aus in Richtung Charlottenburger Chaussee vorgestoßen. Dabei überrannten sie eine deutsche Flakstellung auf dem Gelände der Reichssportakademie und besetzten das Reichssportfeld. Die deutsche Verteidigung in dieser Region bestand aus etwa tausend Soldaten, in der Mehrzahl Überlebende der Kämpfe um Siemensstadt und Spandau.
Als Verstärkung für die Aktion „Rückeroberung des Reichssportfeldes“ wurden an die zweitausend Hitlerjungen aus den Häusern der Gegend eingesammelt. „Alles Jungen von zehn bis vierzehn Jahren. Sie hatten meist alte Beutegewehre aus Frankreich und Italien mit einigen Patronen, die kaum zu gebrauchen waren. Die Pimpfe hatten noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Der Rückstoß allein müßte die meisten von ihnen umwerfen“, erinnert sich der damals 18jährige Helmut Altner.
Am 28. April um 10 Uhr stürmen die Hitlerjungen aus ihren Deckungsgräben auf die freie Fläche des Sportfeldes, in das russische Infanteriefeuer hinein. „Fächerartig sind die Truppen über das Sportfeld verstreut. Zwischen den Soldaten laufen die Hitlerjungen und versuchen ihre Waffen zu benutzen. Da rasen plötzlich aus den Sportler-Häusern MG-Salven. Immer mehr stürzen zu Boden. Wir legen uns hinter die Toten und eröffnen das Feuer.“ Die Rote Armee zieht sich in ihre Ausgangsstellung in der Heerstraße zurück.
„Nach dem Kampf ist der Boden übersät mit Toten. Meist Hitlerjungen in ihrer braunen Uniform oder in Zivil. Die Überreste der zerschlagenen Gruppe treten zusammen und zählen ab. Sie haben 80 Prozent Verluste gehabt. Der Rest darf nach Hause gehen, wie ein Major zu ihnen sagt. Bis zum nächsten Mal.“
Helmut Altner zählt auf seinem Rückweg zur Kaserne mindestens 2.000 Tote und Verletzte, was nicht zuviel geschätzt ist für die Stunde des Angriffs. „Aber Menschenleben sind ja so billig geworden, daß man kein Aufsehen davon macht. Lieber sofort ums Leben kommen, als langsam in unseren Kellern verhungern, sagte vorhin ein 14jähriger.“
Nach Kriegsende wurde das Gelände der Sportakademie Hauptquartier der britischen Streitkräfte in Berlin. Die Kriegsschäden an der Anlage des Reichssportfeldes sanierte die Bundesregierung in den Jahren 1954–1965, wie der Besucher auf einer Messingtafel am Olympiastadion lesen kann. Daneben hängt eine weitere Tafel mit Erbauungsdaten und dem Namen des Architekten des Reichssportfeldes. Nichts weist auf die zweitausend hier getöteten Kinder hin.
Das ärgert vor allem den evangelischen Pfarrer Manfred Engelbrecht. „Die nationalsozialistische Architektur der Anlage, die ideologische Ausrichtung der Olympischen Spiele und dieser idiotische Einsatz haben dieselbe geistige Wurzel.“ Um den Zusammenhang der ästhetisch-ideologischen Kriegsvorbereitung und die tödliche Folge zu verdeutlichen, setzt er sich mit der Arbeitsgruppe der Kreissynode Charlottenburg für die Errichtung eines Mahnmals und einer Gedenkhalle ein.
Nach dem Abzug der britischen Alliierten würde das Land Berlin das 60 Hektar große Gelände gerne für Sportveranstaltungen nutzen. In den Diskussionen zur Neukonzeption wird man nicht drum herum kommen, die Problematik der faschistischen Architektur zu thematisieren. Kerstin Schweizer
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