Der Streit um den zwiespältigen 8. Mai 1945

■ : Appell an den gesunden Menschenverstand Für viele Menschen ist der 8. Mai mit dem Erinnern an Leid verbunden, ABER ... Von Prof. Immanual Geiss

Die Diskussion in Deutschland um den 8. Mai droht nach dem Aufruf der Berliner Gruppe um Rainer Zitelmann in reine Hysterie umzuschlagen – auf beiden Seiten. Eine abwägende Analyse, die versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen, muß Kritik an beiden Seiten üben. Wer den Anlauf zum gesunden politischen Menschenverstand, wie er hier gewagt wird, nur einseitig zitiert und instrumentalisiert, trägt zur Eskalation der inneren Spannungen im vereinten Deutschland bei, tendenziell bis zum Bürgerkrieg. Gegen diesen ernsten Hintergrund, als Warnung eines worst case-Scenario in die denkbar gewordene Zukunft projiziert, sind die folgenden Ausführungen zu verstehen.

I.

Natürlich hat die Berliner Zitelmann-Erklärung zum 8. Mai 1945 in ihrem ersten Punkt recht, zumal mit der Berufung auf das an den Anfang gerückte Heuß-Zitat: Wie alles Menschliche und Historische ist auch der 8. Mai ambivalent. Als Abschluß des Zweiten Weltkrieges in Europa war er beides – politisch, gleichsam über den Kopf, war und wurde er zunehmend Befreiung, für die Demokratie, freilich unter ungleichen Bedingungen im geteilten Deutschland und Europa. Re-Education und Westbindung eröffneten Chancen zur politischen Bildung und Einbindung der Deutschen in Europa, die wir uns auf keinen Fall mehr rauben lassen sollten.

Andererseits: Für die große Mehrheit der Deutschen war der 8. Mai der Tag des „Zusammenbruchs“, Symboltag für persönliches und kollektives Leid, auch Verstörtheit über den Untergang eines Reiches, dessen historisch-politische Problematik vielen, wenn überhaupt, erst allmählich durch einen schmerzhaften Prozeß des Dazulernens aufging. Immerhin beging es die beiden absoluten Weltverbrechen unserers Jahrhunderts: Zweiter Weltkrieg und Auschwitz.

Dennoch muß es erlaubt sein, daß nach 50 Jahren auch Erinnerungen an deutsches Leid um den 8. Mai wieder hochkommen, zumal sie in der DDR tabuisiert und durch einen verlogenen Internationalismus unterdrückt wurden. Vielleicht empfiehlt sich, zwischen individuell-privatem und kollektiv-öffentlichem Erinnern zu unterscheiden: Individuell-privates Erinnern darf zum 8. Mai wieder sein, auch öffentlich, denn das ist normal und menschlich. Nur darf es nicht mit dem Aufruf zur (wie auch immer verklausulierten und getarnten) Wiedergutmachung durch wiederholende (und überbietende) Rache einhergehen, selbst wenn dabei die Unverhältnismäßigkeit der Mittel im Schlußakt der „Befreiung“ schmerzhaft deutlich wird – von der systematischen Zerstörung Dresdens über die militärisch sinnlos gewordene Bombardierung deutscher Städte nach dem Zusammenbruch der Rheinfront im März 1945, Massakern an Flüchtlingen und Massenvergewaltigungen in von der Roten Armee eroberten Ostgebieten und der späteren DDR bis zu den beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Deshalb hatte Bundespräsident Richard v. Weizsäcker in seiner befreienden Rede zum 8. Mai 1985 recht, wenn er zur historischen Erklärung auf das Datum 30. Januar 1933 verweist, und man könnte hinzufügen 1939 einerseits, 1914 und 1871 andererseits, denn dann drängt sich die problematische Stellung der Deutschen in der Mitte Europas auf: Nur sie werden über Nacht, sind sie ganz oder annähernd staatlich vereint, zur politisch stärksten Macht in ihrer Region, zerschlagen dann jedes europäische Gleichgewicht.

Aber dem individuellen Leid von damals und der Erinnerung seitdem bis heute hilft die – abstrakt korrekte – kollektive Erklärung wenig: Natürlich darf sich nicht über die Leiden des Krieges beschweren, wer, wie das Deutsche Reich, zwei Weltkriege überwiegend (1914) bzw. ganz (1939), begonnen hat. Aber Exzesse der Gewaltanwendung gegen zu befreiende Deutsche in der berechtigten Abwehr reichsdeutscher Aggression mindern eben auch den Anteil an der „Befreiung“, wenn sie gegen Kriegsende in Rache-Massaker (aus der Luft) und gegen fliehende Zivilpersonen sowie in Massenvergewaltigungen ausarteten.

So brachte der 8. Mai tatsächlich nicht nur „Befreiung“. Politisch nicht racheheischende Erinnerung an individuelle Leiden der Deutschen Anfang 1945 läßt sich sogar in den Sinn der Befreiungs-These wenden: Jeder Krieg schlägt auf seine Urheber zurück, früher oder später. Jede Politik, die in (deutsche) Rache mündet, verschlimmert die Katastrophe – für alle Beteiligte, erst die von (deutscher) Rache Getroffenen, dann auch für die Urheber des neuen Rache-Karusells.

Im übrigen beweist die bisherige Reaktion in der Öffentlichkeit, wie berechtigt die Warnung davor ist, den 8. Mai ausschließlich und total als Tag der Befreiung zu sehen, weil die öffentliche Gegenrede genau diesen Charakter fast festschreibt und ratifiziert. Die Folgen könnten verheerend sein, wie ein Blick auf den nun seit vier Jahren tobenden Jugoslawienkrieg zeigt: Dort wurde nach 1945 das Leid, das sich vor allem Kroaten und Serben, aber auch kommunistische Tito-Partisanen und royalistische Tschetniks unter den Serben gegenseitig antaten, unter den Teppich südslawischer Brüderlichkeit und kommunistischen Internationalismus gekehrt. Ohne klärende Aussprache vergifteten die Erinnerungen als unterdrücke Komplexe kollektiv die Seele der Jugoslawen und führten zum Wiederholungszwang der blutigen Gegenwart.

Ähnlich würde öffentliche Perhorreszierung legitimer Erinnerung an individuelle Leiden der Deutschen um den 8. Mai 1945 nur alt-neue rechtsextreme Komplexe nähren, mit explosiven Folgen für uns alle. Ein würdiges Einschließen der Trauer auch um deutsches Leid eröffnet eher die Chance, die Erinnerung historisch und damit friedlich zu wenden – als Mahnung zum Frieden. Ein solches Erinnern, in der Hoffnung, es danach dem gnädigen kollektiven Vergessen anheimzustellen, ist zum 8. Mai 1995 auch deshalb wichtig und könnte Balsam auf eigentlich schon vernarbte Wunden gießen, weil zum letzten Mal Überlebende von damals zu einem runden Gedenktag noch unter uns sein werden. Wangeoog hat dafür ein bedenkenswertes Beispiel der richtigen Kombination von Erinnern und hoffentliches Vergessen geliefert: Der Gedenkgottesdienst auf dem Friedhof für die Opfer des britischen Luftangriffs vom 25. April 1945 am 50. Jahrestag soll auch der letzte sein.

II.

Aber, und nun kommt das große Aber, gegenüber der anderen Seite: Nachdem 1989/91 der linke Schwindel so sichtbar geplatzt ist, steht, wie nach allen historischen Erfahrungen auch schon vorher zu erwarten und zu befürchten, nunmehr eine neue Runde des rechten Schwindels dem vereinten Deutschland und Europa ins Haus. Der neue rechte Schwindel läßt sich mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg nur abwehren, wenn die Linke, wie auch immer sie sich definiert, endlich ihre längst überfällige Selbstkritik leistet, anstatt, wie zu viele ihrer Exponenten, solche Selbstkritik oder auch Kritik an der Linken als „unerträgliches Renegatentum“ (H.-U. Wehler über Geiss) abzutun und damit in linker Selbstgerechtigkeit zu erstarren, im Prinzip zumindest seit dem unsäglichen „Historikerstreit“. Solange solche Selbstkritik ausbleibt, steht linke Kritik am neuen rechten Schwindel auf schwachen Füßen.

Dennoch sei sie im Alleingang gewagt, weil der eigentliche politische Skandal der Zitelmann-Erklärung woanders liegt, nicht beim in der Tat zwiespältigen 8. Mai. Die Kritik kann sich kurz fassen, weil die Tatbestände offener zu Tage liegen. Im wesentlichen lassen sich drei Gründe anführen, von denen der letzte erst nach der Veröffentlichung des Aufrufes sichtbar wurde.

1.) Gegen Ende benutzt die Erklärung die Formel von der „selbstbewußten Nation“, die seit einem Sammelband unter genau diesem Titel längst zu einem Slogan einer Neuen Rechten geworden ist, die damit für einen neuen, bisher noch unreflektierten Nationalismus im vereinten Deutschland wirbt.

2.) Rainer Zitelmann protegiert den noch jungen Historiker Karlheinz Weißmann, der diesmal sogar als Erstunterzeichner auftritt. In einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom April 1994 verficht er die These vom „Imperativ der Homogenität“ für die Nation, wenn auch versteckt hinter dem amerikanischen Nationalismus-Historiker Ernest Gellner, „ohne den die Demokratie nicht existieren kann“. Zuvor wandte sich Weißmann gegen deutsche „Schuld-Metaphysik“, einer „üblich gewordenen schwarzen Legende zur nationalen Geschichte“. Was meinte er damit? Gehören Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz auch zur „schwarzen Legende“ zur deutschen „nationalen Geschichte“? Wer Auschwitz leugnet, ist fähig und bereit zu wiederholen.

Weißmann und Zitelmann sind sich vielleicht nicht im Klaren, mit welch brisantem Sprengstoff sie hantieren: Wer die Pflichten zur „homogenen“ Nation postuliert, begründet „ethnische Säuberungen“, um die Nation „rein“ zu machen. Weißmanns nationales Reinheitsgebot führt in neuen Genozid, wo auch immer propagiert und praktiziert. Denn die meisten Staaten der Welt sind nicht homogen, sondern heterogen – ethnisch, religiös, kulturell, sozio-ökonomisch.

Eng damit verwandt ist die Frage nach der Substanz der neuen „selbstbewußten Nation“ der Deutschen: National selbstbewußt waren die Deutschen immer, wenn sie ihr „Reich“ (gleich welcher Nummerierung) hatten. Wollen auch Weißmann und Zitelmann die „selbstbewußte Nation“ wieder mit dem „Reich“ identifizieren, erst für die Vergangenheit, dann auch für die Zukunft? Solange sie diese explosiven Punkte (“schwarze Legende“, „Imperativ der Homogenität“, deutsche Nation wieder als „Reich“?) nicht unzweideutig öffentlich und demokratisch-friedlich klären, ist ihnen politisch nicht über den rechten Weg zu trauen.

3.) Erst nach Veröffentlichung des Aufrufes dämmerte einigen wohlmeinenden Unterzeichnern aus dem demokratischen Lager, daß auch Rechtsextreme mitunterschrieben. Nun ist eine solche Werbeaktion für einen Aufruf zunächst keine öffentliche Angelegenheit: Potentielle Unterzeichner werden angeschrieben, ohne ihnen, über die Angabe der Erstunterzeichner, mitzuteilen, wer sonst noch unterschreiben könnte.

Gegenüber allen Unterzeichnern aus dem demokratischen Lager ist die Einladung von Rechtsextremen zu einem öffentlichen Aufruf, dessen erster Teil offensichtlich akzeptabel ist, dessen zweiter Teil (“selbstbewußte Nation“, kombiniert mit den sonstigen Thesen der Inspiratoren zur „homogenen Nation“, noch weiter verdeckt zum Nation-Komplex aber nicht), ein direkter politischer Betrug. Alle wohlmeinenden oder naiven Unterzeichner müßten sich getäuscht fühlen, auch solche aus der CDU/CSU, die offenbar diese Zusammenhänge nicht durchschauten.

Die Unterscheidung zwischen den beiden inhaltlich so unterschiedlichen Teilen der Erklärung zum 8. Mai hilft vielleicht am ehesten, über die politische Fragwürdigkeit dieser Initiative insgesamt aufzuklären. Ihr Betrugsmanöver gegenüber naiven Unterzeichnern sollte die Initiatoren eigentlich politisch diskreditieren – auf Dauer.

Imanuel Geiss, Bremen