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Globales Dorf zum Ortstarif! Von Mathias Bröckers

Fördert die moderne Informationstechnik die Versklavung des Bürgers durch den „Großen Bruder“, oder beschert sie dem Individuum ein größeres Maß persönlicher Freiheit? Nehmen wir einmal unser Telefon. Man sieht ihm nicht mehr an, daß es einst, zu Beginn des Jahrhunderts, militärische High-Tech war – nach dem Militär kamen Polizei und Sicherheitskräfte in den Genuß „fernmündlicher“ Nachrichtenübertragung und sodann Industrie und Wirtschaft. „Der militärisch-industrielle Komplex hat eine neue Herrschaftstechnologie zur Bespitzelung und Unterdrückung der Massen entwickelt“, hätten (haben?) Fundis vom Kaliber Ditfurth damals wahrscheinlich formuliert. Mittlerweile haben sich die Individuen diese Technologie längst zunutze gemacht: Telefon ist privat für Tante Jutta und Onkel Erwin ebenso unverzichtbar wie beruflich für die Hebamme oder den Mafia-Killer.

Persönliche Mobiltelefone, derzeit noch Statussymbol, werden in kurzer Zeit so selbstverständlich sein wie zu Beginn der Telefon- Ära der stationäre Wandapparat. Satellitenschüsseln haben in Windeseile den Weg aus den Geheimdienstbunkern auf die Hüttendächer der Dritten Welt gefunden. Die Machthaber im Iran haben dieser Informationsmacht gerade den Kampf angesagt: Die Freiheit, unter 100 Programmen auszuwählen, können Diktaturen dem Individuum nicht gestatten.

Und wie sieht's im aufgeklärten demokratischen Westen mit der Freiheit des Individuums aus, rund um die Welt zum Ortstarif zu telefonieren? Diese Frage wird sich am Schicksal einer Software entscheiden, die von Vocal Tec, einer kleinen Firma aus New Jersey, entwickelt und für 49 Dollar auf den Markt gebracht wurde. Das Programm ermöglicht jedem Benutzer des Internet – dem einst streng militärischen, heute millionenfach privat und kleingewerblich genutzten globalen Computernetz – die Datenleitungen zum Telefonieren zu nutzen. Die Software digitalisiert die Sprache und sendet sie in Echtzeit an die Lautsprecher des empfangenden Computers – die Qualität entspricht der eines über Lautsprecher mitgehörten Telefongesprächs. Telefongesellschaften und Kommunikations-Autoritäten sind machtlos gegen die Benutzung der neuen Software: Von den Gesetzen zur Regelung der Telekommunikation sind die Leitungen des Internet und dort benutzte Programme nicht betroffen. Benutzer wählen ihren lokalen Internet-Zugang zum Ortstarif an und geben die Internet-Adresse des Gesprächspartners ein. Steht die Verbindung, können die Partner miteinander sprechen. Voraussetzung sind neben einem Computer eine Soundkarte und ein Modem, jeweils nicht teurer als ein paar Schuhe.

Eine Million Kopien des Programms, so rechnet die Entwicklerfirma, werden innerhalb der nächsten sechs Monate verkauft sein – und vielleicht auch die Firma selbst. Eine große US-Telefongesellschaft hat Vocal Tec bereits ein Übernahmeangebot unterbreitet – offenbar um das Produkt zu unterdrücken. Der Chef, Elon Ganor, ist dennoch zuversichtlich: „Der Geist ist aus der Flasche“, sagte der dem New Scientist, „wir haben gezeigt, daß es geht. Wenn wir verschwinden, wird es andere geben.“ Globales Dorf ohne Ortstarif – nein danke.

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