■ Standbild: Verliebt, verlobt, verloren
„Aus den Augen verloren“, Montag, 20.15 Uhr, Sat.1
Alles umsonst: Da entzieht man sich jahrzehntelang geschickt dem Zugriff von ahnenforschenden Verwandten, läßt Brieffreundschaften allmählich versanden, und dann kommt Jörg Wontorra und macht aus Sat.1 eine Art Interpol für vereinsamte TV-Zuschauer. Menschen, deren Leben so arm an Ereignissen ist, daß sie in der Vergangenheit nach den zwischenmenschlichen Restposten fahnden.
Erfüllt vom Vorsatz, Gutes zu tun, um gut zu verdienen, schickt Jörg Wontorra sein erbarmungsloses Rechercheteam los, um so lange in Fotoalben und Geburtsurkunden zu wühlen, bis auch längst überstanden geglaubte Beziehungskisten reaktiviert sind. Nicht genug, daß der Sportmoderator schon in „Bitte melde Dich!“ jede Woche die Tränendrüsen anschmeißt, jetzt präsentiert er mit „Aus den Augen verloren“ auch noch die Maxi-Version seiner überaus peinlichen Seelenstrips. „Wir erhielten viele Briefe von Leuten, die keine vermißten, sondern Menschen suchten, die sich aus den Augen verloren hatten.“ Und so dürfen sich nun zwei Stunden lang Adoptivkinder und Brieffreunde im Minutentakt um den Hals fallen, um ihre Tränen in Zeitlupe zu vergießen. In Wontorras Fundbüro herrscht Akkord.
Doch die permanente Zusammenführung fremder Menschen ist nur bedingt unterhaltsam. So gähnten dann selbst die Hartgesottenen unter den Show-Touristen verstohlen in die Hand, als Maren aus Stuttgart den dunkelblonden Jungen suchte, den sie am CD-Ständer aus den Augen verloren hatte. Spannung kam nur auf, als die Wiedersehensfreude eines Zwillingspaares so ausuferte, daß nur noch die Merci-Werbung einen doppelten Herzinfarkt vermeiden konnte.
„Das Leben schlägt so seine Kapriolen“, gluckste Wontorra bei jedem Gast, als hätte man ihm gerade die Ablöse von Reinhold Beckmann versprochen. Entweder ist er so beseelt von dem Gedanken, endlich audiovisuelle Omnipräsenz zu erlangen, oder er will Sat.1 endgültig zu seinem persönlichen Workshop machen, um die Traumata einer einsamen Kindheit aufzuarbeiten. Dabei kommt ihm das „Alles wird gut“ so routiniert über die Lippen, als drehe er einen Werbespot für Antidepressiva. Sollte sich Sat.1 jemals zu einer Adaption der amerikanischen Fernsehpredigten entschließen, ist Jörg Wontorra erste Wahl. Oliver Gehrs
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