: Ganz oben anzusetzen
■ Internationaler Tag der Pressefreiheit: Von PEN-Club bis Schriftsteller-Parlament arbeiten Organisationen weltweit gegen Zensur und Gewalt an AutorInnen
Am 26. Mai 1993 erwarten drei Männer den Dichter Tahar Djaout vor seinem Haus. Als er kommt, sprechen sie ihn an; dann schießen sie ihm zwei Kugeln in den Kopf. Eine Woche später stirbt Djaout, Chefredakteur der kritischen Wochenzeitung Ruptures, im Militärhospital in Algier. Aus dem Koma ist er nicht mehr erwacht. Wieder einmal hat die Gewalt über das Wort gesiegt. Ein algerischer Mord, eine algerische Angelegenheit?
Mindestens 102 Journalisten wurden 1994 weltweit getötet, und allein im zweiten Halbjahr ermordete man 86 Autoren, ließ 67 verschwinden. Hunderte kamen ins Gefängnis, wurden gefoltert. Der Artikel 19 der Menschenrechtskonvention besagt, daß ein jeder das Recht hat, seine Meinung frei zu bilden und zu äußern. Diverse Vereinigungen versuchen, dieses Recht universal durchzusetzen. Sie operieren, Erben einer kolonialistischen Vergangenheit, meist von London oder Paris aus. Geschäftssprachen sind Englisch oder Französisch, die wichtigsten Medien Telefon und Fax. Drei Stichworte stehen für die Arbeit in den Zentralen und ihren nationalen Sektionen: Recherche, Lobbying, Campaigning.
Zunächst sammeln die (oft ehrenamtlichen) Aktivisten Daten von Verfolgten und prüfen sie. Bevor zum Beispiel beim 1960 gegründeten „Writers in Prison Committee“ des Internationalen PEN-Clubs ein Autor vom „investigative case“ (allein 1994 waren das mehr als 300) zum „main case“ wird, muß sicher sein, daß er wirklich wegen seines Schreibens in Haft ist und weder Gewalt anwandte noch rassistische Ideen vertrat. Das „Committee“ erfaßt alle Fälle in seiner maßgeblichen und jährlich aktualisierten Case List. Nach Ländern sortiert, erscheinen sie unter Stichworten wie detained, attacked, sentenced, disappeared, killed. Auf diesen Informationen bauen die Lobbyarbeit und die politische Agitation auf. Sie setzen „ganz oben“ an – viele Organisationen haben beratenden Status bei der Unesco, der UNO oder dem Europarat – umfassen aber auch persönliche Briefe von Mitgliedern. Manchmal erhalten diese dabei seltsame Antworten. Als etwa die Liga für Menschenrechte Anfang März den Bundesaußenminister bat, angesichts der türkischen Angriffe keine Kurden abzuschieben, ließ Dr. Kinkel ausrichten: „... als Kurde wird man nicht generell verfolgt, sondern kann sogar Außenminister werden. Mit freundlichen Grüßen im Auftrag“.
Die Briefe an die Verantwortlichen machen nur einen Teil der Arbeit aus. Wenn zum Beispiel „Article 19“, das Internationale Zentrum gegen Zensur, eine Kampagne ausrichtet, muß es vor allem die Medien auf das Schicksal einzelner oder ganzer Gruppen aufmerksam machen: ohne Öffentlichkeit kein Druck. Dafür sind Prominente wichtig, weil sie die Aktion mit dem symbolischen Wert ihrer Person besetzen. So hat fast jede Gruppe eigene „Stars“, besonders natürlich die Selbstorganisationen der Autoren wie der PEN und neuerdings auch das Internationale Schriftsteller-Parlament, dem Salman Rushdie präsidiert. Aber auch die großen Namen können nichts bewegen ohne das Engagement vieler Helfer. Sie mache das, sagte mir eine Berliner Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, um „die Idee der Toleranz praktisch zu leben“. Die Unterstützer unterscheidet, für wen sie sich einsetzen: Das „Parlement“, der PEN und die „Reporters sans frontières“ (RSF) kümmern sich weitgehend um konkrete Berufsgruppen, andere konzentrieren sich auf bestimmte Länder wie zum Beispiel auf Algerien. Zwei Wochen nach dem Mord an Tahar Djaout gründeten Pierre Bourdieu und andere in Paris das „Komitee zur Unterstützung der algerischen Intellektuellen“ (CISIA). CISIA koordiniert materielle und politische Hilfe für verfolgte Algerier. Inzwischen gehört ihm ein großer Teil der intellektuellen Elite Frankreichs an. CISIA organisiert Massendemonstrationen und Pressekampagnen, fördert den Vertrieb algerischer Bücher, Filme und Kunstwerke, und seine Mitglieder besorgen Zimmer für Flüchtlinge und ihre Familien. Neben Algerien aber bewegt weiterhin der Fall Rushdie die Diskussion. Es ist wohl auch ein Verdienst des sofort nach Khomeinis Fatwa im Februar 1989 gegründeten „International Rushdie Defence Committee“ (IRDC), wenn in Verhandlungen mit dem Iran Rushdies Name inzwischen wieder relevant zu werden beginnt. Das IRDC hat in vielen Ländern „Filialen“, und für die deutsche Sektion organisiert zur Zeit Günter Wallraff den Boykott des Rushdieboykotteurs Lufthansa.
Wer sich für verfolgte Autoren einsetzt, muß geduldig sein. Erfolge sind relativ; vom vorletzten zum letzten Jahresbericht des PEN kamen allein 446 neue Fälle ans Licht. Schneller spürbar ist oft praktische Hilfe. So brachten die „Reporter ohne Grenzen“ allein 1993 100 Tonnen Druckpapier, einen armierten Lkw, ein Satellitentelex und anderes Equipment zu ihren in Sarajevo aushaltenden Kollegen. Petitionen und Resolutionen im Stil des „J'accuse“ reichen nicht aus. Das zeigt sich etwa am Internationalen Schriftsteller- Parlament, dessen Tagungen auch den Stellenwert der Poesie als Provokation der Politik demonstrieren. Das Programm der Debatten ist durchsetzt mit poetischen Reflexionen; beispielsweise lasen während des Straßburger Treffens im vergangenen November Schauspieler in einer „Nacht der Solidarität mit Algerien“ Texte von verfolgten Autoren. Der Ereignischarakter solcher symbolischer Aktionen zieht natürlich die Presse an – auch wenn in einem Kommuniqué des Parlaments der Berufsstand der Journalisten bissig als „medial- intellektueller Komplex“ bemäkelt wurde. Vielleicht liegt der tiefere Sinn dieser poetischen Lesungen ja darin, eine so stark von inneren Widersprüchen bestimmte Organisationsform wie ein Parlament von Schriftstellern überhaupt zusammenzuhalten. Strenggenommen, liegt die Stärke des „Parlements“ darin, daß es nur in einem metaphorischen Sinne existiert.
Aber auch hier zählen die konkreten Ergebnisse: die Kritik an der restriktiven europäischen Asylpolitik und die Gründung einer Kette von Städten der Zuflucht, von denen jede künftig einem Verfolgten ein Jahr lang Wohnung, Geld und Arbeitsmöglichkeit stellen wird – Amsterdam, Berlin, Helsinki, La Gorée (Dakar), Lissabon und Straßburg. Weitere werden folgen.
Wer mehr über all diese Aktivitäten wissen will, kann sich auf eine Reihe von Publikationen und Zeitschriften stützen. Außer den vor allem für Insider wichtigen Jahresberichten des PEN und der Reporter ohne Grenzen sind dies von CISIA die Lettres und die Cahiers, deren erstes Heft ganz Tahar Djaout gewidmet ist. In seinen litteratures dokumentiert das Schriftsteller-Parlament seine anspruchsvollen und selbstkritischen Debatten. Article 19 vertreibt ausführliche Hintergrundberichte über Zensur, Medien und Pressefreiheit in verschiedenen Regionen der Welt, und sein Bulletin censorship news informiert mit detektivischer Sorgfalt über regionale und thematische Schwerpunkte des Kampfes gegen die Zensur. Seit 1968 erscheint Index on Censorship, aus dem die taz monatlich eine Auswahl abdruckt. Mit einer Auflage von jetzt 10.000 wird Index in über 100 Staaten gelesen und ist so etwas wie das unideologische Zentralblatt des Kampfes gegen die Zensur – nicht nur in ihrer brachialen Form, sondern auch in ihren europäischen und nordamerikanischen Varianten in Form von Pressemonopolen und Selbstzensur. Das, was der Artikel 19 garantiert, ist auch hier nicht sicher, auch nicht am Tag der Pressefreiheit. Hans-Joachim Neubauer
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