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Siegreicher Verlierer

■ Lionel Jospin (57) ist die neue Lichtgestalt der französischen Linken

Im November 1994, der Wahlkampf hatte längst begonnen, sprach selbst bei den Sozialisten niemand von Lionel Jospin, dem 57jährigen Wirtschaftsprofessor, der sich enttäuscht von seinen Parteiämtern zurückgezogen und sogar mit einem „Ausstieg aus der Politik“ gedroht hatte. Damals richteten sich die Erwartungen der auf 14 Prozent abgeschlagenen Sozialistischen Partei auf eine Kandidatur des Präsidenten der EU- Kommission. Erst das „Nein“ von Jacques Delors eröffnete dessen loyalem Unterstützer Jospin einen Weg, der ihn binnen weniger Wochen an die Spitze der französischen Linken katapultiert hat.

Die Parteibasis war es, die ihn zum Präsidentschaftskandidaten wählte. Das war im Februar. Ausgestattet mit dieser Unterstützung und behindert von dem Mißtrauen fast der gesamten Parteispitze, machte sich der Neue daran, ein sozialdemokratisches Programm zu schreiben, das einerseits den Bruch mit 14 Jahren Mitterrandismus und andererseits den Gegenpol zu einer Rückkehr der Rechten an die Staatsspitze markierte. Er wollte die Institutionen reformieren, die Arbeitszeit verkürzen, die Mindestlöhne erhöhen, den Atomteststopp beibehalten, die europäische Integration intensivieren und den schnellen Brüter von Malville nicht wieder anschalten.

Der Erfolg gab ihm recht. Sein Abschneiden als bestplazierter Präsidentschaftskandidat im ersten Durchgang war von niemandem erwartet worden. Jospins starker zweiter Platz bei der Stichwahl ist das erste positive Urnen-Zeichen für eine Partei, die sich in langen Jahren an der Macht, in Vetternwirtschaft, Korruption und nie eingehaltenen Vesprechungen sozialen Wandels verschlissen hat. Jospin hat einen völlig neuen Stil bewiesen. Er verzichtete auf die alten Partner, machte weder Zugeständnisse an die Kommunisten, noch buhlte er um Unterstützer im liberalen und europafreundlichen Zentrum. Und er warf die alten Symbole auf den Müllhaufen: die Rose in der Faust, die Anrede „Genosse“, das Absingen der Internationale, selbst die Farbe Rot.

Wenige Minuten nach Bekanntwerden des Ergebnisses gratulierte Jospin Chirac, dankte Mitterrand und wandte sich prompt in die Zukunft. Er sprach von einer „tiefgehenden Bewegung für eine Erneuerung“ und davon, daß es nun darum gehe, aus dieser Hoffnung die „Erfolge von morgen“ zu machen. In der Sozialistischen Partei ist Jospin mit seinem Abschneiden zum „natürlichen Chef“ geworden. Für den neuen Präsidenten kann er eine starke Opposition darstellen. Und für die Linke ein Vehikel, sich zu regenerieren.

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