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Tierische Kleinbürger

Zweimal Hamburg mit gemeinsamer Unterströmung: Ibsens „Wildente“ vom Thalia Theater und Jelineks „Raststätte“ vom Schauspielhaus  ■ Von Kai Voigtländer

Die Menschen verbindet mit der Tierwelt eine eigentümliche Ambivalenz. Einerseits repräsentiert sie all das animalisch Schmutzige und unkontrolliert Sexuelle, das man im Prozeß der Zivilisation für immer hinter sich gelassen zu haben glaubt – und andererseits vermittelt das liebe Vieh, wenn es denn nicht zum domestizierten Hausrat zählt, immer noch den Anschein einer Freiheit, die den Menschen auf dem langen Marsch in die bürgerlichen Ordnungen verlorengegangen ist.

Die beiden Inszenierungen aus Hamburg, die zum Theatertreffen nach Berlin geladen sind, haben bei aller Verschiedenheit in Anlage und Durchführung eine gemeinsame Unterströmung, einen Focus im ambivalenten Verhältnis des Menschen zu seiner animalischen Verwandtschaft.

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Zwei alte Freunde sind es, aus ganz unterschiedlichen Familien, um die sich der Knoten schlingt in Henrik Ibsens „Wildente“. Gregers Werle, Sohn des Großkaufmanns Werle und düsterer Wahrheitsfanatiker, trifft nach langen Jahren Hjalmar Ekdal wieder, seinen Jugendfreund, der sich mit Frau und Tochter Hedvig mehr schlecht als recht als Fotograf durchs Leben bringt. Eigentlich ist es Gina, seine Frau, die Hochzeitspaare ablichtet, Bilder retuschiert, zwischendurch ohne Murren Hering, Butter und Bier anschleppt und den Gatten bedient, denn Hjalmar schwadroniert lieber von seiner „Lebensaufgabe“ – einer Erfindung, die zu erfinden er Nachmittage auf dem Sofa vergrübelt –, als sich tatsächlicher Arbeit zu widmen. Oder er geht mit seinem Vater, dem alten Leutnant Ekdal, auf die Jagd. Wobei sich das Jagdrevier der beiden auf den hauseigenen Dachboden beschränkt: sie schießen mit der Pistole auf die dort lebenden Hühner und Kaninchen. Außerdem ist dort noch die „Wildente“ untergebracht, ein hochsymbolischer Vogel, der, einstmals angeschossen vom alten Konsul Werle, nun von Hedvig gehütet wird – als Reliquie der Freiheit und der undomestizierten Natur.

Alles in Butter im bürgerlichen Heldenleben, man hat sich arrangiert mit Lebenslügen und Natursurrogaten – bis Gregers Werle auftaucht, der zwanghaft die Schleier der Täuschung zerreißt. Er enthüllt, daß Gina einst die Geliebte des alten Werle war, mit Hjalmar bloß zum Zwecke der Skandalvermeidung verheiratet wurde und daß Hedvig, Hjalmars geliebtes Töchterlein, in Wahrheit ein Kind des potenten Alten ist.

Jürgen Flimm hat dieses Geflecht aus symbolischen Bezügen, Ordnungssystemen und Lügengebäuden bis in die Nebenrollen mit erlesenen Schauspielern besetzt: Ignaz Kirchner und Hans Christian Rudolph geben das Freundespaar Hjalmar und Gregers, Hildegard Schmahl die aufopfernde Gina, Sven-Eric Bechtolf als Arzt Relling zeigt die Charakterstudie eines Gescheiterten, dem im Scheitern die große Gabe der Gelassenheit zuwächst. Doch wer, wie Gregers, die Wahrheit erzwingt, braucht Opfer: konsequent bewegt sich Jürgen Flimms Inszenierung auf dieses Ende zu, und Erich Wonders Bühne zeigt den Kältestrom, der mit der Wahrheit durchs bürgerliche Leben zieht: von Akt zu Akt wird Hjalmars Atelier leerer, die Requisiten der Behausung verschwinden, am Schluß fallen sogar die Wände, die noch eine letzte, bergende Hülle boten. Die Wahrheit ist ein nacktes Bühnenhaus, die menschliche Illusionsmaschine steht still, und Tochter Hedvig ist ein toter Vogel.

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Die Art und Weise, wie Frank Castorf Elfriede Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle“ am Deutschen Schauspielhaus zur Kenntlichkeit verholfen hat, ist von ganz anderem Kaliber. Zwei Kleinbürgerpaare beherrschen die Szene, und sublimiert wird hier gar nix mehr. „Spaß und Vögeln! Spaß und Vögeln!“ ist die lauthals skandierte Devise – vor allem die der beiden Damen Claudia und Isolde. Per Inserat haben sie sich auf einer Autobahnraststätte mit zwei Tieren verabredet, wedeln zwanghaft mit ihren Kleenex-Tüchern und wollen endlich einmal tierisch ungehemmten Sex haben.

„Nicht nur das Wild ist wild“, röchelt Isolde, „ich will verschmutzt werden.“ Die ersehnten Tiere tauchen auf, mit bluttriefendem Oberkörper, und dann geht es in aller Ausführlichkeit zur Sache: letzter Tango auf dem Damenklo. Postkoital allerdings kommen unter dem Bärenfell die beiden Ehegatten zum Vorschein, der Ausbruch aus der ehelichen Langeweile endet auf dem Beifahrersitz eines Mittelklassewagens.

Vor 16 Jahren debütierte Elfriede Jelinek mit der Fortschreibung von Ibsens „Nora“ als Theaterautorin – ihre Grundfigur ist über die Jahre hin ähnlich geblieben: Ausbrüche von Frauen führen am Ende immer wieder zurück ins eheliche Doppelbett. Frank Castorf hat den von allen Seiten ersehnten Skandal inszeniert. Auch die Autorin hatte sich von Castorfs Hamburger Arbeit „eine gewisse Respektlosigkeit“ erbeten. So flicht er denn einen im Stück nicht vorgesehenen, bastberockten Kellner in die Bühnenhandlung ein, der Jelineks Kunstsprache mit dem abstrakten Idealismus der Schillerschen Schaubühne konfrontiert. Sehr her, auch bei Elfriede waltet der Geist der moralischen Anstalt.

Als Castorf nach ungefähr fünf Anläufen zum Ende kommt und von der Jelinek abzulassen geruht, erlaubt er sich noch einen Schlußeffekt der besonderen Art: als lebensgroße Puppe rollt die Autorin auf die Bühne. Sie wird entkleidet – zwischen ihren Beinen, auf ihren Brüsten blinken gelbe Lampen. Aus dem Bauch der Puppe kommt die Stimme der Jelinek – ein Interview-Monolog. Und im Bühnendunkel leuchtet ihr Geschlecht.

Zwei Enthüller haben einander gefunden: West-Feministin entlarvt Sexwahn der kleinbürgerlichen Männergesellschaft. Enormer Erkenntniswert. Ost-Macker enthüllt West-Feministin als triebgesteuert – wie aufregend. Im Osten nichts Neues.

„Die Wildente“ von Ibsen (Regie: Jürgen Flimm, Thalia Theater Hamburg, 2 Std. 45 Min. m.P.) am 11. 5., 19.30 Uhr und 12. 5., 19.30 Uhr (danach Publikumsgespräch) sowie am 13. 5., 14 Uhr, Schiller Theater, Bismarckstraße 110, Charlottenburg, Theatergespräch am 12. 5., 12 Uhr im Theaterzelt vor dem DT.

„Raststätte oder Sie machens alle“ von Elfriede Jelinek (Regie: Frank Castorf, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 2 Std. 15 Min. o.P.) am 20. 5., 19.30 Uhr, am 21. 5., 18 Uhr (danach Publikumsgespräch), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte.

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