„Droste aufs Maul!!!!“

Krawalle auf der Lesereise: Autonome Männergruppen, organisierte Kinder- schützer und Fraueninitiativen gegen Wiglaf Droste  ■ Von Gerhard Henschel

„Schürt den Zorn der Betroffenen und Überlebenden!!!! Droste aufs Maul!!!!“ So nachdrücklich, Ausrufezeichen feuernd, rief irgend jemand aus Berlin, anonym natürlich, am 12. Mai 1995 in einem Leserbrief an die Junge Welt zur Gewalt auf, und eine anonyme Person aus Hamburg entschied, den Redakteuren gehöre ihre Zeitung „stundenlang um die Ohren gehauen“ – Reaktionen auf die Kritik an einer kindischen Kübelaktion. In Kassel waren bereits am 3.Mai die nicht weniger entschlossenen Mitglieder einer „Gruppe autonomer Männer“ aus der Anonymität herausgetreten. Sie führten einen Eimer eigener Scheiße mit sich und kippten ihn vor dem Café der documenta-Halle aus, weil dort am Abend Wiglaf Droste lesen sollte.

Mit Trillerpfeifen, Mahnwachen und Menschenketten, mit Rempeleien und Sprechchören („Nazis raus!“), mit Fäkalien und Flugblättern, mit Tricks und Faxen haben in den letzten Wochen zornige junge Männer und Frauen versucht, Lesungen von Wiglaf Droste zu verhindern. Er mische „im rechts regierten Deutschland mit“ und verharmlose sexuelle Gewalt, hieß es auf Flugblättern, und wo der Indizienbeweis nicht geführt werden konnte, tat die entstellende Berichterstattung bei der Wiedergabe des Schrecklichen von Autonomenmund zu Autonomenohr ein übriges.

In Bonn, wo ein alternativer Auftrittsort gefunden worden war, nachdem die Veranstalter die geplante Lesung in der Cafeteria im Hauptgebäude der Universität angstvoll zum Platzen gebracht hatten, hing im Schaufenster einer linken Buchhandlung noch tags darauf ein Plakat mit dem Vermerk, die Lesung sei „abgesagt“. Von der Frau, die er im Buchladen nach dem Sinn des Aushangs fragte, erfuhr Wiglaf Droste nur, daß das Plakat hängen bleiben werde. In einem schönen Cartoon von Friedrich Karl Waechter ruft ein zur Flucht vom Bauernhof entschlossenes Schlachtschwein seinen ängstlichen Artgenossen zu: „Dann bleibt doch in eurem Stinkstall und laßt euch verwursten!“ Mit diesem Satz verabschiedete sich auch Wiglaf Droste aus dem Buchladen. Zirkulare aus Autonomenkreisen machten daraus die Räuberpistole: Wiglaf Droste habe die Buchhändlerin „angepöbelt“ und ihr gewünscht, sie solle „verrecken“. Die Theorie vom „Sexisten“ und „Täterschützer“ Droste stützt sich auf Texte, in denen er sich über „Wildwasser“ und „Zartbitter“ lustig macht, Vereine zum Schutz sexuell mißbrauchter Kinder. Wer sich für eine grundgute Sache einsetzt, darf weder kritisiert noch verspottet werden und genießt bei Zuwiderhandlung das Recht auf Zensur – in diesem Irrtum sind autonome Männergruppen, organisierte Kinderschützer und die „Fantifa Kassel“ ebenso befangen wie militante Abtreibungsgegner, religiöse Fundamentalisten und vegane Tierschützer („Käse ist Folter!“).

Polemisiert jemand gegen die Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“, wird niemand von ihm verlangen, daß er Raubmord und Entführung abschwöre. Die Mitglieder und Unterstützer von „Wildwasser“ und „Zartbitter“ scheinen sich selbst jedoch für sakrosankt und die, von denen sie kritisiert werden, automatisch für „Mittäter“ zu halten.

Am 9. Mai blockierten Mitglieder der „Tübinger Initiative für Mädchenarbeit“ und die „Frauengruppe Zumutung“ den oberen Saal im Zentrum Zoo in Tübingen, wo Droste lesen sollte, spielten auf Trillerpfeifen auf, besetzten die Bühne und verstellten auch den Eingang zum Saal im Untergeschoß. Darüber, was dann geschah, berichtete am 11. Mai das Schwäbische Tagblatt: „Der freie Autor aus Berlin sah den verbalen – ,Ihr Faschisten! Zensur!‘ wehrten sich zahlreiche zahlende Gäste – und tatsächlichen Handgreiflichkeiten eine Weile zu, dann griff er selbst in eindeutig gliedvorzeigender Absicht zunächst in seine Hose und hernach ins Geschehen ein. Mit den Worten ,Du Schleimer, du schleimst dich bei Frauen ein, weil du sonst keinen Stich kriegst!‘ stürmte er prügelnd auf einen Umstehenden ein, der ihm in Notwehr die Lippe blutig schlug. Droste schleuderte eine Bierflasche und versuchte den Mann zu beeindrucken – mit der naturgemäß kaum wahrzumachenden Drohung, ihn kraft seiner ,40 Zentimeter‘ zu notzüchtigen. Einer Gegendemonstrantin gab er den Namen ,Frustvotze‘, der, wie er anschließend in einem ,Spiegel-TV‘-Interview bekundete, ,normalerweise nicht zu meinem Wortschatz gehört‘.“

Anderthalb Stunden nach dem angesetzten Termin konnte die Lesung beginnen. Drei Tage später, im Theaterhaus Stuttgart, verlas ein Vertreter der „Initiative 8. Mai“, die Wiglaf Droste eingeladen hatte, vor der Lesung eine Resolution, mit der sich die Initiative zerknirscht von Droste distanzierte: „Wir müssen selbstkritisch gestehen, daß wir uns tatsächlich erst nach der Intervention verschiedener Gruppen vor allem autonomer Frauen gegen Drostes Tübinger Lesung ernsthaft mit diesen Thesen des Autors auseinandergesetzt haben. Eine Diskussion mit ihm halten wir im Rahmen dieser Veranstaltung für unangebracht. Das Theaterhaus als organisatorischen Träger des Abends haben wir von unserer Entscheidung in Kenntnis gesetzt. Wir selbst hätten Droste, wie gesagt, ausgeladen. Euch können wir nur bitten, wieder zu gehen.“ Es gingen aber bloß zwei Frauen, die nur hereingekommen waren, um an dieser Stelle wieder hinausgehen zu können. Im Laufe der Lesung schilderte Droste auch die Tübinger Krawalle, entschuldigte sich für das zitierte Schimpfwort und fand beim Publikum überwiegend Nachsicht für das, was er im Affekt angestellt hatte. Gegen das tagelange planvolle Defäkieren in Eimer, einstudierte Trillerpfeifenkonzerte und vorsätzliche Zensur von seiten organisierter Truppen, die das Publikum fühlen lassen wollen, daß sie nicht lesen können, nimmt sich der kurze Wutausbruch eines einzelnen, dem es schon bald darauf leid getan hat, sich auf das Rabatz-Niveau seiner Widersacher begeben zu haben, sehr menschlich aus.