: Schreckliche Tage in Italien
Der große Favorit Tony Rominger beherrscht den 78. Giro d'Italia in Abwesenheit seines großen Rivalen Induráin schon zu Beginn nach Belieben ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Der dominierende Radprofi der letzten Jahre war eigentlich der Schweizer Tony Rominger. Im vergangenen Herbst schraubte er in Bordeaux den Stundenweltrekord auf monströse 55,291 Kilometer, und sonst gewann er so ziemlich alles, was er gewinnen wollte. Außer der Tour de France. Und so ist Tony Rominger eben doch nicht der dominierende Radfahrer der letzten Jahre. Die Tour ist die ultimative Meßlatte der internationalen Speichenzunft, und der Sieger der letzten vier Auflagen hieß Miguel Induráin, während Rominger meist chancenlos hinterherdümpelte.
Das soll in diesem Jahr endlich anders werden, und zu diesem Behufe hat Rominger seine Vorbereitung radikal umgestellt. Seit er seinen Heuschnupfen in den Griff bekam, hatte der Schweizer stets eine überragende Frühlingsform, gewann die Spanienrundfahrt und reiste dann einige Wochen nach Colorado ins Höhentrainingslager, um sich schließlich bei der Tour de Suisse den letzten Schliff für den „Grand Boucle“ zu holen. Diesmal verzichtet er auf die Rocky Mountains, die Spanienrundfahrt wurde ohnehin in den September verlegt, und so fährt der 34jährige erstmals seit vielen Jahren wieder beim Giro d'Italia mit.
Mitfahren heißt im Falle Rominger natürlich, daß er den Giro mutmaßlich gewinnen wird, zumal Induráin, zuletzt Stammgast beim Giro, seine Teilnahme kurzfristig absagte, wohl um größeren psychischen Schäden vorzubeugen. Der Spanier bereitet sich statt dessen bei kleineren Etappenrennen auf die Tour vor. Ebenfalls nicht dabei ist der unermüdliche Kletterer Marco Pantani, 1994 Zweiter des Giro und Dritter der Tour, der am 1. Mai beim Training von einem wildgewordenen Autofahrer gerammt wurde und seine erlittenen Knieverletzungen noch nicht auskurieren konnte.
Damit ist der Weg für Rominger ziemlich frei, und nach seinem grandiosen Sieg bei der Tour de Romandie erklärte er sich sogar selbst zum Favoriten, was bei dem vorsichtigen Schweizer einigermaßen sensationell zu nennen ist. „Ich wüßte nicht, wie ich geschlagen werden könnte“, sagte er, die Konkurrenz möge sich keinen Illusionen hingeben. Entsprechend motiviert startete Rominger in den Giro. Beim ersten Zeitfahren über 19 Kilometer im regnerischen Assisi nahm er dem Vorjahressieger Jewgeni Berzin 57 Sekunden ab, drei pro Kilometer. Italiens Radsport-Idol Francesco Moser, einst selbst Stundenweltrekordler und jetzt in der Organisation des Giro tätig, rechnete flugs hoch, daß er auf diese Art bei den restlichen zwei Zeitfahren glatte sechs Minuten Vorsprung gegenüber dem Russen herausfahren werde.
Kaum hatte er das Rosa Trikot des Spitzenreiters übergestreift, stapelte Tony Rominger auf einmal tief. „Radfahren ist ermüdend“, stellte er plötzlich fest. Im übrigen habe er nicht die Mannschaft, um das Rennen zu kontrollieren, und er sei auch gar nicht sonderlich interessiert, die Führung in der Gesamtwertung um jeden Preis zu verteidigen. Eine Behauptung, die er auf den Etappen drei und vier sogleich Lügen strafte. Kaum hatte ein Ausreißer soviel Vorsprung, daß er das Rosa Trikot in Gefahr brachte, jagte Romingers Mapei-Team in trauter Zusammenarbeit mit der Mannschaft von Sprinterkönig Mario Cipollini los, um die Flüchtlinge einzufangen. Und auch Berzin bekam sofort alle Flausen ausgetrieben. „Wenn Du eine halbe Stunde Rückstand hast, dann lasse ich Dich mal wegfahren“, beschied Rominger den Jüngling.
Auf der 4. Etappe über 192 Kilometer von Mondolfo nach Loreto beherrschte Rominger nicht nur souverän das Feld, sondern nutzte den leichten Zielanstieg zu einer erneuten Demonstration seiner Überlegenheit. Auf den letzten Metern hängte er die Spitzengruppe mit Fondriest, Casagrande, Chiappucci, Berzin ab und holte sich nach dem Zeitfahren schon den zweiten Etappensieg. „Rominger ist eine andere Welt, man kann nur versuchen, so lange wie möglich in seiner Nähe zu bleiben“, staunte der Heltersberger Udo Bölts, und auch die schärfsten Konkurrenten des Schweizers wie Ugrumow, Berzin oder Fondriest scheinen fast schon zu resignieren.
Rominger hingegen verweist immer wieder auf die „schrecklichen Tage“, die beim insgesamt 3.827 Kilometer langen Giro, der in diesem Jahr schwieriger ist als die Tour de France, noch kommen werden, auf die fünf Bergankünfte und das Bergzeitfahren der 17. Etappe. „Ich will nicht mehr hören und lesen, daß ich der einzige Favorit bin“, wettert er gegen die Geister, die er selbst gerufen hat, läßt aber andererseits keinen Zweifel an seinem Siegeswillen: „Dies ist mein vorletztes Jahr, und ich will meine Karriere mit möglichst vielen Blumen beenden.“
Miguel Induráin hofft derweil, daß die Verbissenheit und Intensität, mit der in Italien gefahren wird, seinen Rivalen soviel Substanz kosten, daß die begehrtesten aller Blumen, die von Paris, zum fünften Mal hintereinander in seiner Vase landen. „Ich habe schon auf der ersten Etappe gesehen, daß meine Entscheidung, den Giro nicht zu fahren, richtig war“, freut sich der Baske, der mit dem Sieg beim Prolog der Asturien-Rundfahrt bewies, daß auch er langsam in Fahrt kommt.
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