: Nachschlag
■ Der Schrein der Hühner – Präparate von Iris Schieferstein
Liebhaber eingeschweißter Koteletts und deftiger Analogien sehen schon länger mit Wohlwollen, daß immer mehr Künstler ihre Arbeitsutensilien an der Fleischtheke beziehen. Spätestens seit der Engländer Damien Hirst mit der Motorsäge ein ganzes Kalb samt Muttertier zerteilte, wissen auch Laien, daß der Schlachter um die Ecke einiges an Künstlerbedarf bereithält. Auch die Berliner Künstlerin Iris Schieferstein hat sich in der Fleischabteilung umgesehen. Kurzerhand exhumierte sie einen kleinen Trupp tiefgefrorener Hähnchen (Güteklasse 1A) aus ihrem kalten Grab im Supermarkt, um ihnen ein neues Leben als Artefakte zu schenken. Nun präsentieren sie sich mit neuen Köpfen und einzelnen Federn versehen im Keller der Aktionsgalerie in der Großen Präsidentenstraße. In fünf von schlanken Säulen eingefaßten Glasbehältern tanzen sie Polonaise, umarmen sich und recken die schuppigen Füße zum Gebet. Die Augen andächtig geschlossen, den rosigen Kamm von einem Heiligenschein aus Käfern umgeben.
Obwohl grotesk drapiert, wirkt das Geflügel überaus anmutig und erhaben Foto: Galerie
Obwohl grotesk drapiert, wirkt das Geflügel nicht komisch, sondern anmutig und erhaben. Als konservierte Parabeln scheinen die Hühner einen Teil der Würde zurückzuerlangen, die ihnen auf der Einbahnstraße zwischen Legebatterie und Kühlregal abhanden kam. Das Lachen der Besucher ist nur kurz: zu menschlich ist das Arrangement, zu augenscheinlich die Artverwandtheit. Der Gegensatz von profanem Massentier und sakraler Atmosphäre läßt selbst hartgesottene Fleischesser einigermaßen ratlos zurück. Mal allein, mal zu dritt nehmen die Hühnchen ihr konservierendes Bad, die Flüssigkeit vergrößert die entblößten Poren und das Relief der Sehnen und Adern.
Was von nahem wie eine naturwissenschaftliche Sammlung wirkt, wird im Ambiente des kahlen Gewölbes zu einer Art Sakristei, die einen Schrein beherbergt – geheimnisvoll und hermetisch. Die Ausstellung zeigt, daß die künstlerische Verwendung von Tieren respektive Nahrungsmitteln nicht zwangsläufig in pseudo-provokativer Pose oder effektheischender Verballhornung münden muß. Obwohl diese oft lukrativer als eine ernste Auseinandersetzung ist: Die Londoner Sammlung Saatchi kaufte unlängst die Fotos der brasilianischen Künstlerin Carina Weidle, auf denen sie Tiefkühlhähnchen zu sportlichen Tätigkeiten wie Radfahren, Hürdenlauf oder Gewichtheben animierte. Oliver Gehrs
Bis 8.6., täglich ab 21 Uhr, Aktionsgalerie Große Präsidenten, Große Präsidentenstraße 10, Mitte.
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