Eiliger Pragmatismus ist die schlechteste Lösung

Nach dem mißglückten Wettbewerb für das Holocaust-Denkmal ist eine Debatte über Form und Standort eines Denkmals notwendiger denn je  ■ Von Oliver G. Hamm

Kaum ein paar Wochen ist es her, daß der Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ im künftigen Regierungs- und Parlamentsviertel mit zwei ersten Preisen entschieden wurde. Doch statt Antworten bei der Suche nach der Form und ihrer Bedeutung zu geben, sind angesichts der Ergebnisse nur mehr grundsätzliche Fragen geblieben, darunter die, ob ein solches Thema überhaupt „ästhetisch bewältigt“ werden kann.

Ein Grund für dieses Urteil lieferte der Wettbewerb selbst: Wer die Zurschaustellung deutscher Befindlichkeiten, wer den Schwall hilfloser Äußerungen der „Deutschmeister des Trauerns“ (Henryk M. Broder im Spiegel) von 528 Entwürfen über sich hat ergehen lassen, der muß zu dem Schluß kommen, daß es wohl keine ausschließlich künstlerische Form zur Darstellung des Holocaust gibt. Zu brutal erschien das Monumentale, zu einfallslos kamen die Mahnzeichen daher, zu eindimensional erklärten sich die Objekte.

Dies öffentlich zu sagen und damit das gesamte Denkmal-Projekt in der geplanten Form in Frage zu stellen, traut sich angesichts des mit Nachdruck geäußerten politischen Willens bislang niemand. Im Gegenteil. Die Sache scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein: Eine Machbarkeitsstudie wurde in Auftrag gegeben, in den Medien zu Spenden aufgerufen. Acht Millionen Mark sollen noch in diesem Jahr zusammenkommen, weitere acht Millionen stellen der Bund und das Land Berlin zur Verfügung.

Statt einen gesellschaftlichen Konsens über die mögliche Form des Holocaust-Denkmals und dessen Einbindung in die bestehende oder entstehende „Berliner Mahnmal-Topographie“ zu suchen, wird eine schnelle Entscheidung gesucht. Ausgerechnet die Frage der Gestaltung des Holocaust-Denkmals soll auf pragmatisch-bürokratischer Ebene entschieden werden; dies ist vor dem Hintergrund der sprichwörtlichen „deutschen Gründlichkeit“ des von den Nationalsozialisten systematisch organisierten Völkermordes besonders fatal. Bereits auf der Pressekonferenz zur Wettbewerbsentscheidung im März stand die offensichtlich alles bestimmende Frage im Mittelpunkt des Interesses, wieviel wohl das Eingravieren von viereinhalb bis sechs Millionen Namen in die stilisierte Grabplatte nach einem Entwurf der Gruppe um die Berliner Künstlerin Christine Jackob-Marks (ein erster Preis) koste. Das läßt Schlimmes befürchten.

Wer im Preisgerichtsprotokoll des Wettbewerbes nachblättert, wird verblüfft feststellen, daß der Entwurf des Kölner Architekten Simon Ungers (ebenfalls ein erster Preis) von der Jury bereits einmal aussortiert worden war, ehe er über einen „Rückholantrag“ doch noch in den Kreis der 17 prämierten Arbeiten aufgenommen wurde – und einen der beiden ersten Preise zugesprochen bekam. Diese ungewöhnliche Entscheidung öffnet Spekulationen natürlich Tür und Tor: Suchte das Preisgericht bewußt einen „mehrheitsfähigen“ Entwurf, welcher der Interpretation verschiedener Interessengruppen genug Spielraum läßt? Ein endgültiges Votum für Ungers' Entwurf könnte unter Umständen neuen Streit provozieren. Dadurch, daß hier nicht eindeutig die Individuen einer bestimmten Opfergruppe, sondern die Namen der Vernichtungsstätten im Vordergrund stehen, könnten sich die Gegner von weiteren Denkmalen für Sinti und Roma, Homosexuelle und Euthanasieopfer auf die „Integrationsfähigkeit“ dieses „allgemeingültigen“ Denkmals berufen.

Ein „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in der nun geplanten Form weist zu viele Schwächen auf, um die Notwendigkeit einer Realisierung zu belegen. So muß eine zentrale Holocaust-Gedenkstätte in Deutschland unbedingt in den Kontext der authentischen Orte eingebunden werden. Unberücksichtigt in den Entwürfen bleiben: das Prinz-Albrecht- Gelände, bis 1945 Sitz der Gestapo, der SS und des Reichssicherheitshauptamtes, heute Gedenkpark mit Ausstellungshalle der Stiftung „Topographie des Terrors“; die abgeräumte Neue Reichskanzlei an der Voßstraße; das KZ Sachsenhausen mit der zentralen Verwaltung aller Konzentrationslager der Nationalsozialisten in Europa; das Haus der Wannsee-Konferenz; schließlich die authentischen Orte der verfolgten Berliner Juden, ihre Synagogen, Wohn- und Arbeitsstätten und die nahegelegenen Orte dokumentarischer Ausstellungen und Archive, „Topographie des Terrors“, Deutsches Historisches Museum, Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge, Jüdisches Museum. Wenn der „Förderkreis zur Errichtung eines Denkmals der ermordeten Juden Europas“ seine eigene Forderung nach „Gedenken und Lernen, Trauer und Erkenntnis“ ernst nimmt, dürfte er sich mit keiner der beiden bestplazierten Wettbewerbsarbeiten zufriedengeben, sondern müßte Arbeiten in die Diskussion einbeziehen, die diesen ganzheitlichen Aspekt besser berücksichtigen.

Dazu gehört neben der im Wettbewerb auf dem 11. Rang plazierten Arbeit „Bus Stop“ von Renata Stih und Frieder Schnock vor allem die Arbeit „eingeschrieben“ von Merlene Berthold D. und Partner, Unterschleißheim/München (14. Rang). Mit dem zunächst verblüffenden Vorschlag, das Wettbewerbsgelände zu verkaufen und mit dem Erlös eine Stiftung zum Erhalt der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager und zur Realisierung von „Denk-Zeichen“ in Berlin für Juden und andere Opfergruppen auszustatten, legt sie den Finger in eine offene Wunde: Während die Finanzierung des Holocaust-Denkmals gesichert scheint, ist für dringend notwendige Sanierungsmaßnahmen in zahlreichen bestehenden Gedenkstätten angeblich kein Geld da. Weiterhin sieht der Entwurf vor, Orte der Dokumentation (Zeughaus/ Deutsches Historisches Museum), der Trauer (ein Steg an der Friedrichsbrücke/Alte Nationalgalerie) und der „lebendigen jüdischen Kultur und Geschichte“ (Neue Synagoge/Centrum Judaicum) thematisch zu verknüpfen und „Lichtspuren zu Rathäusern“ in anderen Orten Deutschlands auszusenden, um das von Berlin ausgehende feinmaschige Netzwerk des NS-Terrors anzudeuten.

In einem Vermerk der Berliner Kulturverwaltung vom 28. April 1992 zu einer Besprechung mit Staatssekretär Franz Kroppenstedt (Bundesministerium des Inneren) wurde ausdrücklich festgehalten, daß die vorgesehene Gedenkstätte „auch eine Darstellung der Geschichte des Antisemitismus geben“ sollte. Davon war in dem Wettbewerb allerdings nicht mehr die Rede. Dabei erscheint es unabdingbar, auf den Zusammenhang des Holocaust mit der vorangegangenen systematischen Unterdrückung und Entrechtung der Juden im NS-Staat hinzuweisen. Nur auf das fatale Ende einer Kette beispiellosen psychischen und physischen Staatsterrors hinzuweisen, hieße, die Geschichte des Holocaust so zu vereinfachen, daß künftigen Generationen – die nicht mehr die Möglichkeit haben werden, Zeitzeugen zu befragen – der Zugang zu diesem Kapitel deutscher Geschichte unnötig erschwert würde.

Gerade weil die „Endlösung der Judenfrage“ nicht separat darstellbar und erklärbar ist, muß sie in den Kontext der Geschichte von Unterdrückung und Verfolgung der europäischen Juden gestellt werden. In Berlin entstanden und entstehen seit Ende der achtziger Jahre eine Reihe von Denkmälern, welche die Etappen vor der Entrechtung bis zur systematischen Ermordung der Juden und anderer Opfer des Nationalsozialismus konkret darstellen. Durch diese Form der Denkmäler am authentischen Ort wird nicht nur ein Datum ins öffentliche Gedächtnis zurückgeholt und mit Emotionen der Schreckensplätze gedacht. Vielmehr sind im künstlerischen Spannungsfeld Interpretationsvorhaben entstanden, die zugleich Sinnbild und Dokumentation, Kunst und Aufklärung darstellen. Insbesondere acht neue Gedenk-Orte sind zu Zeichen gegen das Vergessen und zu besonderen Schwerpunkten im Stadtraum geworden. Zu den Erinnerungszeichen zählen das Mahnmal Bahnhof Grunewald von Karol Broniatowski, dessen 18 Meter langer Betonblock mit gespenstisch eingeschnittenen Figuren die Deportation der Berliner Juden thematisiert. An dieser Stelle sei auf die „Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel“ von Renata Stih und Frieder Schnock verwiesen, wo anhand von 80 doppelseitigen Bild- und Texttafeln die Systematik der Ausgrenzung der Juden veranschaulicht wird. Die Zeit des faschistischen Terrors, aber auch den Widerstand dagegen, stellen das Mahnmal KZ- Außenlager Sonnenallee von Norbert Rademacher, die Steglitzer „Spiegelwand“ oder die „Bibliothek“ von Micha Ullman auf dem Bebelplatz dar. Sie alle arbeiten mit stillen Chiffren, die den konkreten Ort und dessen Geschichte bewußt machen.

Wer ein zentrales „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ errichten will, hat auch die jüngere Geschichte miteinzubeziehen. Ebenso wie die Stiftung „Topographie des Terrors“ den ahistorischen Umgang mit dem Gelände der NS-Terrorzentralen bis in die achtziger Jahre hinein zum Thema ihres Gedenkparks macht (Schutthügel, Abschnitt der Mauer), muß beim Holocaust-Denkmal die jahrzehntelange Verdrängung des Völkermordes an den Juden als Teil der Geschichte und die frühere Funktion des vorgesehenen Standorts im nördlichen Bereich der Ministergärten als Teil des „Todesstreifens“ an der Staatsgrenze zwischen DDR und Bundesrepublik dokumentiert werden.

Ist es also überhaupt statthaft, jetzt einen Entwurf zur Realisierung auszuwählen und damit die Art des künftigen Erinnerns in eine feste Form zu pressen? Daß jetzt, mit fünfzig Jahren Verspätung und nach einer mehr als sechsjährigen Diskussion über die Art und den Ort des Gedenkens an den Holocaust, alles so schnell gehen soll, ist nicht einsichtig. Bei der Frage, wie mit dem Prinz-Albrecht-Gelände umzugehen sei, war etwa der Wettbewerb „Gedenkpark für die Opfer des Nationalsozialismus“ 1983 nicht Abschluß, sondern Ausgangspunkt einer intensiven Diskussion, die gar zu einer Neukonzipierung der Aufgabe führte: das Ergebnis des 1993 entschiedenen neuerlichen Wettbewerbs wird mit der Grundsteinlegung der Dokumentations- und Ausstellungshalle am 8. Mai 1995 nun umgesetzt.

Man muß dem Architekten Axel Schultes – Wettbewerbssieger für das Regierungsviertel im Spreebogen – deshalb zustimmen, wenn er fragt: „Die Kunst, wäre die ein tauglich Ding, Zeugnis abzulegen für und gegen den Holocaust? Macht der erweiterte Kunstbegriff vor gar nichts, auch vor der Shoah nicht halt? Ein Mahnmal, jenseits der Vernichtungslager? – Am beliebigen Ort? Jenseits der US-Botschaft?“

Neben zahlreichen uninspirierten Judenstern-Applikationen und gar einem stilisierten Güterwagen- Riesenrad ist Schultes' Arbeit einer bewußten Verweigerung bereits im ersten Rundgang ausgeschieden. Doch über die berechtigten Vorbehalte gegen eine „zentrale“ Gedenkstätte am nichtauthentischen Ort und gegen den Versuch, dem Holocaust künstlerisch eine Gestalt zu geben, muß noch einmal gesprochen werden, gerade angesichts des äußerst unbefriedigenden Wettbewerbsergebnisses.

Der Autor ist Redakteur bei der Fachzeitschrift „Bauwelt“.