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„Entschuldigung – Kinderladenkind“

■ (Über-)Leben in einem antiautoritären Kinderladen: Zwei Opfer, ein taz-Redakteur und eine Praktikantin, erinnern sich

„Die Männer, so erzählt meine 56jährige Mutter, „haben damals Theoriediskussionen geführt, die Frauen aber die Klos geputzt.“ Auch im Kinderladen, jenem Lieblingsprojekt linker Pädagogen, wurde an der Arbeitsteilung nicht gerüttelt. Meine Eltern – Vater Lehrer, Mutter Hausfrau – hatten Ende der sechziger Jahre mit einer Schar Gleichgesinnter einen Kinderladen im niedersächsischen Wilhelmshaven aufgemacht.

An die Suche nach einem geeigneten Haus erinnere ich mich noch sehr gut. Irgendwie, das ahnte ich, wurde da was von den Erwachsenen ausgeheckt, das uns Kleinen zugute kommen sollte. Fast 100.000 Einwohner zählte meine Heimatstadt damals, der Kinderladen war eine Sensation. Während meine Schwestern begeistert waren, hatten meine Eltern mit ihrem Sohn weniger Glück. Instinktiv wehrte sich der damals Sechsjährige gegen die Rezeptur der Erwachsenen. Die Kinderladen-Eltern meinten es ja nur gut: Alle Verklemmungen, die ihrer Generation anerzogen worden waren, sollten uns erspart bleiben. Weil die Freiheit aber ihr theoretisches Fundament brauchte – die antiautoritären Schriften der rororo- Reihe verstauben heute in meines Vaters Bücherregal –, entstanden schnell neue Zwänge. Die, deren Kind nicht mit den Händen malte, gar lieber Kriegsspielzeug als öde Holzklötze bestaunte, die hatten als Eltern kläglich versagt.

Mein Schlüsselerlebnis aber war ein schöner Sommertag 1970. „Kinder, jetzt spielt ihr alle nackt!“ lautete der antiautoritäre Befehl. Dünn, wie ich schon damals war, behielt ich die Klamotten lieber am Leib – so lange, wie es eben ging. Dann aber siegte der Gruppenzwang. Irgendwer hatte wohl mal wieder irgendwas gelesen. Und gründlich mißverstanden. Severin Weiland (31), Berlin)

Schon froh, daß ich nicht mit den Fingern esse

Oft schon habe ich es mir beim Essen mit meinem Tischnachbarn verdorben, wenn ich unbedarft in seinem Salat herumstocherte. Ich halte die Gabel nämlich immer in der rechten Hand, wo eigentlich das Messer hingehört. Daß die „linke“ Hand die „richtige“ Gabelhand ist, wurde mir nie beigebracht. Auf meine Entschuldigung „Kinderladenkind!“ hat mir noch keiner geantwortet – vielleicht waren die Opfer schon froh, daß ich nicht mit den Fingern esse. Im Kinderladen aßen die Kinder mit den Fingern, oder zumindest durften diejenigen ihre Erbsen einzeln mit den Fingern einfangen, die Lust dazu hatten. Anfang der Siebziger galt das als revolutionär.

Einziges Dogma im Kinderladenprojekt in Bonn-Dransdorf war, daß jedes Kind seinen Alltag selbst bestimmte. Natürlich wünschte sich jede Mutter, daß ihre Tochter nur mit Autos spielte und der Sohn mit den Puppen – die Wünsche der Väter sind mir nicht bekannt. Als mal eine Gruppe Psychologen uns als Versuchsobjekte für eine Rollenstudie auserkor, schlug das Herz jeder emanzipierten Mutter höher. Das Ergebnis der Studie könnte sie dann aber an den Rand des Infarkts gebracht haben: Wenn gleichaltrige Jungen und Mädchen in einem Raum nur ein Spielzeug hatten, war es in kaum einer Gruppe strittig, daß allein der Junge das Spiel bestimmte. Nina Kaden (26), Berlin

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