: Aus Kindern richtige Menschen machen
■ Der Brauch der Beschneidung ist in Afrikas traditionellen Gesellschaften tief verwurzelt, aber immer schmerzhaft und gefährlich
Mumienfunde aus Ägypten weisen darauf hin, daß die Tradition der Beschneidung weiblicher Geschlechtsorgane schon mehr als zweitausend Jahre alt ist. Der Brauch ist vor allem in Afrika verbreitet, aber auch in traditionellen Gesellschaften anderer Weltteile von Südamerika bis Papua-Neuguinea. Im 19. Jahrhundert empfahlen auch in Europa Chirurgen die Mädchenbeschneidung als Mittel gegen Masturbation und „Hysterie“.
Bei der radikalsten Form der Beschneidung, wie sie beispielsweise in Somalia Tradition ist, werden alle äußeren Geschlechtsteile weggeschnitten. Danach wird die Wundöffnung um die Vagina vernäht, so daß ein höchstens reiskorngroßes Loch übrigbleibt. Es ist dann die Sache des Ehemanns, in der Hochzeitsnacht die Geschlechtsöffnung seiner Frau wieder zu erweitern. „Die meisten Männer glauben, daß die Jungfräulichkeit der Mädchen nur durch die Beschneidung sicher erhalten bleibt“, sagt der somalische Lyriker Said Salah Ahmed, selbst ein überzeugter Gegner der Beschneidung. „Nur so kann der Mann gewiß sein, daß seine Braut nicht vorher mit einem anderen geschlafen hat.“ In Westafrika wird gemeinhin „nur“ die Klitoris und ein Teil der Schamlippen entfernt; bei anderen Völkern, wie den Masai in Kenia, nur die Klitorisvorhaut.
Je nach Tradition wird die Beschneidung kurz nach der Geburt oder in der Pubertät vorgenommen. Im letzteren Falle ist sie traditionell Teil von Initiationsriten, die jetzt aber langsam in Vergessenheit geraten: Mädchen wie Jungen werden mehrere Wochen lang von ihren Familien isoliert und in Geheimbünden durch Riten und Schulung auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Am Ende dieser Initiationszeit stehen Riten der Körpermarkierung – Beschneidung, Hauteinritzungen, Körperbemalung – flankiert durch ein großes Tanzfest. Bei den Ndembu im Norden des heutigen Angola wurden Kinder dazu in abgesonderte „Schattenhäuser“ gebracht, deren Eingang einer Vagina nachempfunden sein sollte; darin wurde per Beschneidungsakt die Kindheit symbolisch getötet und ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft geboren.
„Die Beschneidung ist ein Mittel, die Zugehörigkeit des einzelnen zur Gesellschaft hervorzuheben“, erklärt der französische Ethnologe Claude Meillassoux, der seit Jahrzehnten die Benachteiligung der Frau in Westafrika erforscht. „Der Ritus ist keine Mißhandlung – es besteht nicht der Wille, dem Kind zu schaden.“ Befürworter der Beschneidung argumentieren häufig mit der Notwendigkeit eines sichtbaren Zeichens des Erwachsenwerdens. Oft sind Mütter überzeugt, ihre unbeschnittenen Töchter würden keinen Mann finden und keine Kinder bekommen.
Aus medizinischer Sicht ist jede Beschneidung schmerzhaft und gefährlich. Die Probleme reichen von Schwierigkeiten bei Geschlechtsverkehr und Entbindung über Zystenbildung, Entzündungen und Stau von Menstruationsblut bis zur Gefahr von Infektion durch unsterile Instrumente. Es kommt vor, daß Kinder bei der Beschneidung verbluten. Und selbst im Alter sind die Folgen nicht vorbei: „Als ich zur Entbindung in einer Klinik war, traf ich dort eine alte Frau, die operiert werden sollte“, erzählt die somalische Sängerin Hadiya Abdullahi Dalleys. „Infolge der Beschneidung hatte sich bei ihr ein drei Kilogramm schweres Gewächs gebildet.“
Kampagnen gegen die Beschneidung sind in Afrika zahlreich, leiden aber darunter, daß als erste die Kolonialherren damit begannen. Als christliche Missionare in den 20er Jahren in Kenia die Beschneidung beim Kikuyu-Volk unterbinden wollten, entwickelte sich daraus breiter antikolonialer Protest. In Französisch-Westafrika wurde als Reaktion auf die christliche Herrschaft die Beschneidung zur islamischen Pflicht erklärt, obwohl ja Kinder aller Religionen beschnitten werden.
So kommt es, daß die Beschneidung oft zur bewahrenswerten afrikanischen Tradition verklärt wird und Gegner der Beschneidung in den Verdacht westlicher Fremdbestimmung geraten. In Frankreich erklärte der sozialistische Premierminister Michel Rocard 1990 die Beschneidung zum Ausweisungsgrund für Ausländerinnen, und wenige Monate darauf wurde in einem aufsehenerregenden Prozeß eine Beschneiderin aus Mali zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Malische Einwanderergruppen protestierten damals scharf. „Dadurch zieht der Westen wieder eine Trennungslinie zwischen ,zivilisierten‘ und ,wilden‘ Menschen“, sagte die Rechtsberaterin Amina Sédibé.
In vielen Ländern Afrikas ist die Beschneidung gesetzlich verboten. Doch Beobachter meinen, daß sich eine uralte, tief verwurzelte Praxis nicht durch staatliche Repression auslöschen läßt. „Dann wird es nur trotzdem weiterhin heimlich gemacht, und niemand erfährt je, was passiert“, meint die Kenianerin Joyce Naisho, die auf diesem Gebiet geforscht hat. Den Anstoß zu einem anderen Vorgehen gab die Weltfrauenkonferenz in Kenias Hauptstadt Nairobi im Jahr 1985, in dessen Folge bei den UNO ein „Interafrikanisches Komitee über traditionelle Praktiken“ eingerichtet wurde (Sitz: 147, rue de Lausanne, Genf). Es unterstützt Aufklärungsinitiativen afrikanischer Frauen. Zu einem Vorreiter auf diesem Gebiet wurde Burkina Faso, wo 1988 auf Regierungsinitiative ein „Nationales Komitee zum Kampf gegen die Beschneidung“ unter Vorsitz von Chantal Compaoré, Ehefrau des Staatspräsidenten, entstand. Es arbeitet mit ähnlichen Komitees in Nachbarländern zusammen. Durch Lieder, Filme und Theaterstücke versuchen sie, das Thema in den Dörfern überhaupt zur Sprache zu bringen und dadurch zum Nachdenken anzuregen. Bettina Gaus
Dominic Johnson
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