Grenze zur Zivilisation

Mit dem „Hirschjäger-Expreß“ ins schottische Hochland. Vorbei an Seen, Mooren und Schauplätzen von Moritaten. Nur im Sommer, wenn die Touristen kommen, sind die Züge besetzt  ■ Von Ralf Sotscheck

Als es draußen langsam hell wird, ist der Zug schon weit hinter Glasgow. Bei Garelochhead steigen die Gleise steil an, das Meer verschwindet langsam aus dem Blickwinkel: Das schottische Hochland beginnt. Plötzlich legt sich der Zug in einer langgezogenen Kurve ein wenig auf die linke Seite, so daß man durch das Fenster tief ins Tal auf den Loch Long blickt. Auf dem See schippern ein paar Ausflugsboote, die meisten liegen jetzt in der Vorsaison noch vertäut im Hafen von Arrochar.

Der Schlafwagenschaffner serviert dünnen Kaffee. Die Abteile sind winzig, die Etagenbetten bequem, wenn man nicht besonders groß ist. Der „Western Highlander“, wie der Nachtzug offiziell heißt, fährt abends um halb neun vom Londoner Bahnhof Euston ab und kommt zwölf Stunden später in Fort William an. Sein Spitzname lautet „Hirschjäger-Expreß“, weil er von den schottischen Lords und Unterhausabgeordneten am Wochenende für Heimatbesuche genutzt wird.

Eigentlich sollte der Schlafwagenzug für immer eingemottet werden, wenn es nach der Eisenbahngesellschaft „British Rail“ gegangen wäre. Unrentable Strecken sollen dichtgemacht werden, um die Staatsbahn für die Privatisierung flottzumachen. Jedes Ticket müsse mit umgerechnet mehr als tausend Mark subventioniert werden, behauptet British Rail. Die „London Friends of the West Highland Line“, eine Bürgerinitiative zur Rettung der Strecke, widerspricht: Es wären nur hundert Mark – etwa genausoviel, wie die Königliche Oper an Zuschüssen pro Sitzplatz kassiere.

Anfang des Monats errangen die EisenbahnfreundInnen einen Sieg: Ein schottischer Richter entschied, daß die Strecke vorerst offenbleibt. Durch das Urteil hat der Western Highlander eine Gnadenfrist von mindestens einem halben Jahr erhalten, wahrscheinlich sogar länger: Weil es ein Präzedenzfall war, sind die ganzen Privatisierungspläne ins Wanken geraten.

Nach Arrochar führt die Eisenbahnstrecke zum Loch Lomond, dem größten Binnensee Großbritanniens, und läuft für die nächsten 40 Kilometer am Ufer entlang. Der See hat dreißig Inseln, darunter Inchmurrin mit den Ruinen des Lennox Castle. Inchmurrin und eine weitere Insel, Inchclonaig, wurden früher benutzt, um Alkoholiker und Geisteskranke zu isolieren. Am Ende des Loch Lomond, hinter Ardlui, geht es bis Crianlarich wieder bergauf. Hier teilt sich die Strecke: Nach Westen gelangt man nach Oban, nördlich führt die Strecke weiter nach Fort William. „Früher sah man Crianlarich als Grenze der Zivilisation an“, heißt es in einem Eisenbahnführer von 1894, als der Bahnhof eröffnet wurde. Das Originalgebäude steht nicht mehr: Es brannte im März 1962 ab. Auch die früher bei den Reisenden so beliebten Picknickkörbchen, die auf dem Bahnsteig verkauft wurden, gehören der Vergangenheit an, seit in den zwanziger Jahren Speisewagen an den Zug gehängt wurden.

Vom Bahnhof führt ein Fußweg zum „West Highland Way“, einer Wanderstrecke von Glasgow nach Fort William, die bis zum 20 Kilometer nördlich gelegenen Bridge of Orchy parallel zur Eisenbahnlinie verläuft. Danach führt der Wanderweg nordwestlich durch die Berge nach Fort William, während die Bahn einen 80 Kilometer langen Bogen durch das Moor von Rannoch im Norden schlägt.

Gefährliche Abkürzungen

Zwischen dem Fluß Orchy und der Bahnstrecke kann man einen riesigen Findlingsstein sehen. Laut Überlieferungen soll ein kräftiger junger Mann vom Clan der Mac Gregors versucht haben, den Stein vom Gipfel des Ben Doran quer über das Tal zum Hügel auf der gegenüberliegenden Seite zu werfen. Erfolglos.

Das 30 Kilometer breite Hochmoor beginnt bei Garton, dessen Bahnhof nicht mehr in Betrieb ist. Ein alter Eisenbahnwaggon auf einem Abstellgleis diente früher als Schule für die Eisenbahnerkinder. Eintönige Moorlandschaft zieht sich bis zu den schneebedeckten Grampians am Horizont. Mitten hindurch führt ein schmaler Pfad nach Kingshouse, wo er auf den West Highland Way trifft. Schilder warnen davor, vom Pfad abzuweichen: Viele Menschen sind im Moor verschwunden, vor allem zu Anfang des Jahrhunderts, als in Kinlochleven ein Aluminium-Schmelzofen gebaut wurde und manch Bauarbeiter eine Abkürzung durch das Moor nehmen wollte. Rannoch Moor ist übrigens der Schauplatz von Robert Louis Stevensons Roman „Kidnapped“.

Der Bahnhof Rannoch und das benachbarte Hotel – der ehemalige Bahnhof – sind die einzigen Gebäude weit und breit. Der Zug hält kurz an, doch niemand steigt ein oder aus. Nördlich vom Bahnhof fährt der Zug über einen Stahlviadukt mit neun Pfeilern, der längsten Brücke bis Fort William, bevor die Strecke scharf nach Nordwesten abbiegt und den Cruach Hill hinaufsteigt. Am Gipfel liegt Corrour, mehr eine Haltestelle als ein Bahnhof – mit 430 Metern der höchste Punkt der Linie. Dicht neben den Gleisen grasen ein Dutzend Rehe in der Heide.

Bei Luibruaridh läßt der Zug die Wildnis hinter sich, die Landschaft wird grüner und sanfter. Tief unten liegt Loch Treig. Die Strecke ist jetzt abschüssig. Schon bald ist der Zug auf Höhe des Ufers und fährt dann am Fluß Spean entlang. Das Tal verengt sich zur Monessie- Schlucht hin.

Stolz, turbulent und unbezähmbar

Die Wasserfälle bei Monessie seien, so steht es in dem alten Eisenbahnführer, „die Verkörperung des Geistes der Highlands: stolz, turbulent und unbezähmbar“.

Der Bahnhof Roy Bridge besteht lediglich aus einem kleinen Plastik-Unterstand in den Büschen. Rechts davon erhebt sich der Mullroy, auf dem im 17. Jahrhundert die letzte Schlacht der Clans in Schottland stattgefunden hat. Links vom Bahnhof, im „Keppoch House“, lebte früher der Clan-Chef der McDonells von Keppoch. Als er 1663 starb, kamen seine beiden Söhne aus dem Internat in Frankreich zurück und luden ihre sieben Cousins zum Essen ins Haus ein. Die undankbaren Vettern brachen einen Streit vom Zaun, erdolchten die Brüder und rissen sich deren Erbe unter den Nagel. Als der Barde von Kippoch, der alte Ian Lom, davon hörte, besorgte er sich im nördlich gelegenen Invergarry Verstärkung, zog mit fünfzig Mann zum Keppoch House und schnitt den sieben Cousins die Köpfe ab. Dann ritt er mit seiner Beute im Gepäck zurück nach Invergarry und warf die Köpfe unterwegs in einen Brunnen am Ufer des Loch Oich. Der Brunnen heißt heute „Tober-na'n-Ceann“, der „Brunnen der Köpfe“.

Die Gleise führen jetzt am Südufer des Spean nach Spean Bridge. Die Gärten hinter den kleinen Reihenhäusern reichen bis an den Bahndamm, und kurz darauf tauchen schon die ersten Ausläufer von Fort William auf.

Fort William liegt am Fuße des 1344 Meter hohen Ben Nevis, dem höchsten Berg Großbritanniens, der aber meist in Nebel gehüllt ist. Der Ort ist das bedeutendste Fremdenverkehrszentrum der westlichen Highlands. Durch den Tourismus ist Fort William rasch gewachsen. Reiseführer aus den siebziger Jahren geben Einwohnerzahlen von fünftausend an, heute sind es mehr als doppelt so viele. Der Kopfbahnhof von Fort William ist die Endstation des Western Highlander.

Als die Western Highland Railway nach Fort William 1894 fertiggestellt war, setzten schon bald Bemühungen ein, die Strecke nach Mallaig zu verlängern. „Damals stießen die Bedürfnisse der benachteiligten Regionen nicht auf vollkommen taube Ohren bei der Regierung“, heißt es mit vorwurfsvollem Unterton in einer Eisenbahnbroschüre. Dennoch wurde die 65 Kilometer lange Strecke durch Täler, über Flüsse und unter Bergen hindurch erst 1901 fertiggestellt.

Zwischen Fort William und Mallaig wohnten damals nur fünf Menschen pro Quadratkilometer, was viele am Sinn der Strecke zweifeln ließ. So wurden zunächst vor allem Fisch und Schlachtvieh mit der Bahn transportiert. An der Bevölkerungsdichte, so scheint es, hat sich bis heute nichts geändert, doch im Sommer ist in dem Zug kaum ein Sitzplatz frei, weil die Strecke bei TouristInnen sehr beliebt ist. Die Eisenbahngesellschaft setzt deshalb während der Saison auch Dampflokomotiven ein.

Nachdem der Zug den Caledonian Canal bei Bonavie überquert hat, läßt er die häßlichen Wohnsiedlungen und das Industriegebiet von Corpach schnell hinter sich und fährt für eine Weile am Ufer des Loch Eil entlang, bis er nach Westen in Richtung Glenfinnan abbiegt. Die Strecke ist ein Meisterwerk der Baukunst, ein Erlebnis für Eisenbahnfans: Immer wieder mußten Tunnel in die Berge gesprengt und Viadukte über Täler und Gewässer gebaut werden. Der längste Viadukt bei Glenfinnan ist 137 Meter lang und besteht aus 21 Bögen, die bis zu 33 Meter hoch sind.

Hinter Glenfinnan führt die Strecke bergauf durch zwei Tunnel und über zwei Viadukte, fällt danach steil zum Loch Eilt ab und verläuft bis zum unbemannten Bahnhof Lochailort durch eine „Landschaft von wilder Schönheit, der kalte Tinte niemals gerecht werden“ könne, wie es in einem historischen Eisenbahnbuch heißt. Der „Staunfaktor“ sei nirgendwo in Großbritannien größer als hier, behauptet auch der Zugschaffner: „Der Staunfaktor ist die Landschaftsmenge geteilt durch die Aufnahmefähigkeit.“