: Die Bestie mit dem Seitenscheitel
Heiner Müller arbeitet am Nationalsozialismus und der Arbeiterrevolution. Jetzt inszeniert er erstmals Brecht, bevor er wieder Müller inszeniert: Am Berliner Ensemble hatte „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ Premiere ■ Von Sabine Seifert
Heiner Müller schreibt an einem neuen Stück. Die Null-Nummer der „Zeitung“, herausgegeben vom Schauspiel Bochum, die die neue Mannschaft um Leander Haußmann präsentiert, gibt bereits März 1996 als Uraufführungstermin bekannt. „Germania 3“ bringt Hitler und Stalin ins Spiel. In der „Drucksache 16“, die in Zusammenarbeit von Berliner Ensemble und Alexander Verlag erscheint, sind zwei Szenen vorab veröffentlicht, dazu ein Gespräch mit Müller über Auschwitz, in dem es heißt: „Der Nationalsozialismus war eigentlich die größte historische Leistung der deutschen Arbeiterklasse. [...] Der Blitzkrieg oder der Bewegungskrieg war nach der gescheiterten Revolution von 1848 die Herausführung der deutschen Arbeiterklasse aus dem Status der Ausgebeuteten in den Jägerstatus. Sie zogen in den Krieg und wurden Jäger. [...] Der Krieg wurde zum Ersatz für die Revolution, genauso wie jetzt die Krawalle gegen Ausländer wieder der Ersatz sind für die nicht zu Ende geführte Revolution.“
Nun sind Interviews mit Müller inzwischen wesentlich interessanter als seine Inszenierungen. Gehen wir mal davon aus, daß Müller sich mit der Hitler-Stalin-Epoche derzeit besonders intensiv beschäftigt. Fiel seine Wahl daher auf das Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, das Brecht 1941 im Exil als Gangsterparabel auf Hitlers Aufstieg verfaßt hat? Und ist Müllers historisches Interesse der Grund, dem Tableau über die gelungene Kooperation von Großkapital und kriminell entfesseltem Kleinbürgertum nicht viel mehr als ein paar (mitunter gelungene) Travestieelemente hinzuzufügen?
Historisches Tableau: Das Maschinenzeitalter ist museumsreif in einer Glasvitrine zu besichtigen, die innerhalb eines roten Rechtecks auf einer ansonsten leeren, nur von Eisenpfeilern gesäumten Bühne steht. Von oben wird ein zweites rotes Rechteck herabgelassen (Bühne: Hans Joachim Schlieker), in dem wie für den Fotografen die jeweiligen Akteure posieren können. In Brechts Gangsterstory, in der es um Mafiosi, Schutzgelderpressung und die Kontrolle des Blumenkohlhandels geht und vordergründig ganz amerikanisch zugeht, tauchen kaum verschlüsselt die wichtigsten politischen Eckdaten und Persönlichkeiten der 30er Jahre auf: vom rasanten Aufstieg Hitlers, der Korrumpierung und Entmachtung Hindenburgs, bis hin zum Reichstagsbrand, der Ermordung des SA- Führers Röhm sowie des österreichischen Kanzlers Dollfuß. Martin Wuttke als Arturo Ui trägt seinen Seitenscheitel knapp über dem Ohr, der Nacken ist ausrasiert, der Schnäuzer fehlt.
Kleines Vorspiel: Während Schuberts „Erlkönig“ romantisch- schaurig wütet, taucht Wuttke als hechelnde Bestie aus dem schwarzen Bühnenhintergrund auf, der Oberkörper ist nackt und weiß geschminkt, die Zunge hängt ihm blutrot aus dem Mund. Dem grandiosen Spiel von Martin Wuttke ist es zu verdanken, daß dieser Theaterabend nicht völlig im schauspielerischen Einerlei der BE-Crew verschwindet.
Leider ist Müller zum Thema Mafia und ihren guten Verbindungen zur Geschäftswelt nicht viel eingefallen. Die einen Herren sind grau, die anderen schwarz gekleidet und tragen Pistolen, die laut knallen können. Kohlköpfe und Hohlköpfe. Aber Ui alias Wuttke ist bei einem Könner in die Lehre gegangen: ein Schauspieler, verkörpert vom alten Bernhard Minetti, der in dieser Szene einen Glanzauftritt hat, erteilt ihm Unterricht. Zeigt ihm, wie man eindrucksvoll geht (Zehenspitzen zuerst, den Kopf zurück, Hände vor das Geschlechtsteil), wie man eindrucksvoll steht (die Arme majestätisch vor der Brust verschränken), wie man wirkungsvoll spricht und dabei die Arme führt. Und so sieht man Geste um Geste den mit geringem Selbstbewußtsein ausgestatteten Bandenchef zum Volksredner und Volksverhetzer heranwachsen. Dieser Ui ist nicht gerade ein sympathischer Zeitgenosse, aber ein armes Bürschchen, mit dem man schon Mitleid bekommen kann. Und der anderen das Fürchten lehrt.
Müllers Bühnensprache ist flotter, konventioneller geworden. Die Geschichte wird gerade herunter erzählt – mit einigen amüsanten Abstechern ins Operettenfach. Da imitiert eine Frau (Margarita Broich) mit stummen Lippenbewegungen und imposanten Armbewegungen sowohl Männer- wie Frauenstimmen einer Opernszene, später weint sie arienreif als trauernde Witwe, die ansonsten unbewegt ihren Text spricht oder kichert einfach blöde, nachdem sie die berühmten Sätze aus dem Epilog „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ gesprochen hat. Martin Wuttke aber findet ganz am Schluß eine Geste, die das politische Pathos des grotesken Historienspiels bricht: die schon zum Hitlergruß flach erhobene Hand führt er in letzter Minute zum Munde und wirft Küßchen ins Publikum. Dieses dankte.
Bertolt Brecht: „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Inszenierung: Heiner Müller. Nächste Aufführungen 13. 6., 30. 6. – 6. 7.
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