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Die Sehnsucht nach der Endzeit

Die japanische Aum-Sekte plante den Weltkrieg und wollte ihn selbst anzetteln / Vor allem Angehörige der gesellschaftlichen Elite folgten dem Guru – aus Frustration im Beruf  ■ Aus Tokio Chikako Yamamoto

Auf dem Schulhof der Mittelstufe im Tokioter Stadtteil Setagaya ruft ein Zwölfjähriger einem Mitschüler hinterher: „Paß auf, wenn du mich weiter schikanierst, schütte ich dir eine Tüte Sarin über den Kopf.“ Der Angesprochene grinst: „Bring doch das Sarin mit – aber für die Lehrer.“

Ob in den Schlagzeilen der Medien, bei politischen Diskussionen oder im privaten Gespräch: Das von den Nazis entwickelte und von Saddam Hussein gegen die Kurden eingesetzte Giftgas Sarin beherrscht Japan. So entsteht anläßlich des Giftgasterrors ein neues, die Alltagsphantasien beflügelndes Vokabular, das dem Jargon der Sekte „Aum Shinrikyo“ entstammt. Dazu gehört zum Beispiel „Armageddon“, der letzte Krieg der Menschheit, wie ihn schon die biblische Apokalypse voraussagte. Ein Begriff, der eine wichtige Rolle in jener Sekte spielte, die vermutlich für die Sarin-Anschläge in japanischen U-Bahnen verantwortlich ist.

Selbst Japans renommiertesten Zeitungen und Fernsehsendungen überbieten sich gegenseitig mit sensationslüsternen Geschichten zum Giftgasterror und zur Aum- Sekte. Vergangene Woche sorgten etwa die Funde von Panzerwaffen, Granaten und Munition auf dem Sektengelände für Aufregung. Das enorme Interesse überrascht nicht, ist doch die Sektentragödie voller Mystik, Gewalt, Tragik und Greuel, mithin der Stoff, aus dem die Geschichten fürs breite Publikum sind. Auch nach der Verhaftung von Sektenführer Shoko Asahara weiß niemand, was diese Sekte genau wollte. Noch fehlen Erklärungen, warum „Aum Shinrikyo“ Giftgasexperimente und tödliche Anschläge durchführte, wie die Sekte den Waffenkauf in Rußland organisierte, und welche militärischen Aktionen ihre Führer im Sinn hatten. Doch die Vermutungen werden immer düsterer: Jüngsten Berichten zufolge plante die Sekte den Staatsstreich und wollte mit dem Giftgas Sarin große Teile der Bevölkerung umbringen. Offenbar wollte Sektenführer Shoko Asahara den von ihm für das Jahr 1997 prophezeiten Weltkrieg schon in diesem Jahr selbst inszenieren.

Erleichert stellen viele Japaner inzwischen fest, daß ihre Polizei vermutlich gerade rechtzeitig handelte, um eine Katastrophe zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft will jetzt gegen Asahara und weitere elf führende Mitglieder seiner Sekte Anklage wegen Mordes und Mordversuchs erheben. Bei einer Verurteilung droht ihnen die Todesstrafe.

Eine andere Frage aber beschäftigt Japanerinnen und Japaner ebenso: Warum geht von dieser fanatischen religiösen Gruppe für viele junge Leute eine solche Faszination aus? Die Praxis der Aum-Gläubigen beginnt mit Yoga und Meditation und zielt auf die Erlangung übermenschlicher Kräfte. Viele Anhänger Asaharas fingen mit solchen harmlosen Übungen an, suchten aber bald – teilweise wahnhaft – nach immer neuen „Erkenntnissen“. Den Überbau liefern Versatzstücke des Buddhismus. Sektenführer Asahara bezeichnete sich aber auch schon als Jesus Christus und ließ eine große Hindu-Statue in seiner Kommune bauen.

Damit entsteht, auf den ersten Blick, ein chaotisches Mischwerk aus Religion und Okkultismus. Aum-Brüder und -Schwestern meditieren mit dem Ziel, schwerelos in der Luft zu hängen oder unter Wasser sehr lange den Atem anzuhalten, aber auch, um den nächsten Weltkrieg zu überleben. Die Sekte hat in wenigen Jahren etwa 10.000 aktive Anhänger gefunden. Insbesondere überdurchschnittlich gebildete junge Menschen wandten sich dem Guru zu. Die im Mai verhafteten Sektenführer entstammen fast ausnahmslos der Elite Japans. Sie absolvierten die besten Universitäten des Landes und arbeiteten in hohen Kaderfunktionen der renommiertesten Unternehmen. Kurz: Jeder für sich verkörpert das Idealbild der leistungsorientierten Konkurrenzgesellschaft Japans.

Michio Ochi, Professor an der Tokioter Meiji-Universität, erklärt die Faszination, die von der Aum- Sekte auf die Elite ausgeht, so: „Es ist nicht verwunderlich, daß sich in unserer Gesellschaft viele ingelligente junge Leute vom System abwenden. Selbst Spitzeningenieure müssen sich häufig mit unterfordernder Tätigkeit abfinden und etwa in einer Autofabrik jahrelang an der Verbesserung des Rückspiegels herumbasteln. Vor allem Wissenschaftler sehen für sich immer weniger Möglichkeiten, in etablierten Organisationen ihre Fähigkeiten zu entfalten.“

Tatsächlich hatte die Aum- Sekte rasch ein großes Interesse, Techniker und Naturwissenschaftler in ihre Reihen aufzunehmen. Dabei fanden die frisch Rekrutierten genau das, was ihnen in den stark hierarchisierten und strukturierten Organisationen verwehrt war: „Ich konnte endlich Forschung betreiben, so wie ich es mir immer gewünscht hatte“, gestand ein Aum-Mitglied der Polizei. Die bisherigen Ermittlungen deuten darauf hin, daß vielen der Verhafteten nicht bewußt war, daß ihre Forschungsarbeit bei „Aum-Shinrikyo“ im Dienst der Entwicklung moderner Waffentechniken stand.

Der Forschung übergeordnet war indessen der Glaube, daß die Welt bald untergeht. Asahara behauptete, daß nur die von ihm Auserwählten die Apokalypse überleben würden. Für alle Aum-Mitglieder aber gilt: Man muß sich ohne Unterbrechung seelisch und körperlich auf das Ende vorbereiten. In diesem Sinn läßt sich auch die Herstellung von Giftgas und Waffen rechtfertigen, denn was im nächsten Weltkrieg zur Anwendung kommt, erforscht man besser gleich selbst – und im voraus.

Wer sein Leben in den Dienst der Aum stellte, verzichtete auf sein persönliches Hab und Gut. Er hatte der Sexualität zu entsagen, die Familie zu verlassen und Freundschaften zu beenden. Und doch fand die feste Ordnung und die strenge Hierarchie, die auch heute noch die Gesellschaft Japans prägt, in der Aum ihre Fortsetzung. Wer als Kadermann von renommierten Großunternehmen kam, wurde bei Shoko Asahara „Minister“. Seine Hauptaufgabe war es, seinen Untergebenen den richtigen Glauben an die bevorstehende Apokalypse einzuhämmern und ihnen ihre materiellen Güter abzunehmen, einschließlich zukünftiger Erbschaften.

Asahara, Sohn eines armen Tatami-Herstellers und von Geburt an fast blind, soll in seiner Jugend immer wieder gesagt haben: „Ich will die beste Universität besuchen und sehr reich werden.“ Sozialkritische Elemente, die er zu Beginn noch verfolgte, sind im Lauf der Jahre fast vollständig verschwunden. Seinen Traum, den er nicht verwirklichen konnte, hat der Aum-Führer kompensiert, indem er einen Teil der zukünftigen Elite des Landes zu Sektenbrüdern und Giftgasproduzenten machte.

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