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Rechtsnational ganz ohne Scham

Bei den morgigen Kommunalwahlen verstecken sich die WählerInnen der rechtsextremen Front National im Elsaß nicht mehr / Die 15 Prozent von Le Pen haben ihnen den Rücken gestärkt  ■ Aus Obernai im Elsaß Dorothea Hahn

„Das hängt davon ab, was am Sonntag passiert“, sagt Vizebürgermeister Jean-Marie Stintzy vorsichtig, wenn ihn jemand um einen Termin für die nächste Woche bittet. Seit Jahren ist er für die Finanzen der elsässischen 10.000-Einwohner-Stadt Obernai zuständig. Von seinem eidottergelb gestrichenen Büro im zweiten Stock des Renaissancebaus am Marktplatz aus hat er die neue Bibliothek und die Umbauten in den Schulen mit veranlaßt, die Verkehrsberuhigung zwischen den Fachwerkhäusern der Altstadt und die großen Parkplätze für die Touristenbusse vor den Toren der mittelalterlichen Stadtbefestigung aus Backstein. Daneben arbeitet er weiter in seinem Hauptberuf als Lehrer.

Genau wie der langjährige Bürgermeister der elsässischen Kleinstadt gehört Stintzy zum rechten Lager. Ein Parteibuch hat er nicht. „Politik“, sagt er, „spielt in einer französischen Kleinstadt keine Rolle. Was zählt, sind Namen und persönliche Bindungen.“ In Obernai wird das Budget in der Regel ohne Gegenstimme angenommen. Alle wichtigen Entscheidungen fällt der Stadtrat einmütig.

Wenn alles so weiterginge wie bisher, müßten die Bindungen und die langjährige Erfahrung der gegenwärtigen Chefs im Rathaus ausreichen, um bei den morgigen Kommunalwahlen wiedergewählt zu werden. Französische Bürgermeister bleiben oft viele Jahrzehnte im Amt. Auch in Obernai. Auf dem Friedhof zeugt ein Grabstein aus dem Jahr 1783 davon, wie bewährt diese Tradition ist. „Hier ruht Herr Matheus Hoffmann“, ist da über einem gemeißelten Totenkopf geschrieben, „30 Jahr gewester Bürgermeister“.

Mit dem Slogan „Unis pour Obernai“ (Gemeinsam für Obernai) haben die heutigen, erst seit 12 Jahren amtierenden Rathauschefs ihre Liste plakatiert, die eine „neue Dynamik“ verspricht. Darauf kandidieren Politiker aus so unterschiedlichen und auf nationaler Ebene völlig zerstrittenen Parteien wie der neogaullistischen RPR, der konservativ-liberalen UDF und der sozialistischen PS in friedlicher Eintracht. Bei den letzten Kommunalwahlen wäre dieses Team beinahe schon im ersten Durchgang durchgekommen. „Uns fehlten nur 6 Stimmen zur absoluten Mehrheit“, erinnert Stintzy sechs Jahre danach mit Stolz in der Stimme.

Morgen wird das wohl anders verlaufen. Denn neben der Konkurrenzliste „Obernai demain“ (Obernai morgen), deren Kandidaten ebenfalls aus dem traditionellen politischen Spektrum stammen, bewirbt sich erstmals in Obernai die rechtsextreme Front National für das Rathaus. „Alliance obernoise“ (Obernaier Allianz) heißt die Liste, an deren Spitze eine 53jährige Personalchefin steht. Seit dem 23. April wissen die Rathauschefs, daß sie ihnen gefährlich werden kann. An jenem Tag bekam der Präsident der „Front National“, Jean-Marie Le Pen, im ersten Durchgang für die Präsidentschaftswahlen in Obernai 26 Prozent der Stimmen. Mit diesem Ergebnis lag der Ort mitten im elsässischen Trend – in einigen ganz kleinen Weilern bekam Le Pen sogar über 40 Prozent der Stimmen – und knapp 11 Prozent über dem nationalen Abschneiden von Le Pen.

Als „brutal“, beschreiben die Rathauschefs ihr Erwachen im April. Keine Anzeichen habe es für das Erstarken der „Front National“ gegeben. Sicher wußten sie von der steigende Zahl von Autoeinbrüchen, deren Opfer vor allem ausländische Touristen sind. Aber die Immigration, das Hauptthema von Le Pen, liegt in Obernai mit 10 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Und in der Brauerei, der Tabakfabrik, dem Tourismus und den Weinbergen hat der 10.000-Einwohner-Ort immerhin 6.000 Arbeitsplätze, weshalb die Arbeitslosigkeit mit 6 bis 7 Prozent ebenfalls unterdurchschnittlich ist.

Obernais einziges seit langem als solches anerkanntes soziales Problem heißt „Europa“. Das ist der Name der Sozialsiedlung auf der anderen Seite der Eisenbahngleise, die auf den Stadtplänen des Fremdenverkehrsbüros, die jedes Fachwerkhaus einzeln erwähnen, nicht eingetragen ist. „Europa“ ist beschaulich und grün. Zwischen den vierstöckigen kastenförmigen Bauten liegen Wiesen. Von den Wohungsfenstern aus geht der Blick auf die umliegenden Weinberge, in denen die Reben für den weißen Pinot und den Riesling sprießen. Eine Gruppe mit Plastiktüten beladener Frauen mit bunten Kopftüchern kommt vom Supermarkt über die Bahngleise zurück. Auf der Straße vor einem langgezogenen Wohnhaus aus den 70er Jahren nehmen junge Männer einen alten Peugeot auseinander. Dieses Haus und sein mit gelblichen Platten verzierter Zwilling nebenan sollen demnächst abgerissen werden. „Heruntergekommen – nicht renovierbar“, lautet das Urteil der Rathausherren über die vor allem von Immigranten aus der Türkei bewohnten Gebäude.

In „Europa“, Obernais sechstem Wahlbezirk, haben 36 Prozent der Einwohner Le Pen gewählt. Viele von ihnen bekennen sich heute offen zu ihrer Entscheidung. Le Pens gutes Abschneiden hat ihre Scham verdrängt, die früher dafür sorgte, „die Nachbarn“ vorzuschieben, oder ein schnelles „Ich habe nicht gewählt“ zu murmeln. „Ich traue mich nachts nicht mehr auf die Straße“, erklärt eine Frau, die Le Pen gewählt hat. „Die Notablen im Rathaus haben gar keine Ahnung, was es bedeutet, neben einer türkischen Familie zu wohnen“, sagt eine andere. „Wenn Zigeuner einen Einbruch machen, läßt die Polizei sie eine Stunde später wieder frei“, schimpft ein Mann.

Für „Rechte“, „Rechtsextreme“ oder gar „Rassisten“ halten sich die Wähler der „Front National“ alle nicht. Ihren Präsidentschaftskandidaten beschreiben sie als „Radikalen“ und als den einzigen französischen Politiker, „der mit dem Sumpf aufräumen würde“. Isabelle Chambon, die Bürgermeisterkandidatin der „Alliance obernoise“, gehört der „Front National“ seit den 80er Jahren an. Sie trat ihr bei, als sie sah, wie Le Pen von den Medien schikaniert wurde. „Da diskutierten 30 Leute im Fernsehen gegen Le Pen – und kein einziger für ihn“, begründet sie ihren Parteibeitritt. Dem Rechtsextremismus-Vorwurf hat Chambon geschickt vorgebeugt: Ein „ehemaliger Buchenwald-Deportierter“ (Chambons Vater) und der „Sohn eines für Frankreich Gefallenen“ unterstützen ihre Kandidatur. „Rassisten“, sagt Chambon, „gibt es in Frankreich in allen Parteien, das ist keine Besonderheit der Front National.“ Wenn die Rede von den jüngsten Gewalttaten ist – unter anderem dem von Front-National-Plakate- Klebern in Marseille begangenen Mord –, spricht sie von den zahlreichen „Provokationen“, deren Opfer ihre Partei bereits wurde. „Wenn eine Schuld der Front National für rassistische Verbrechen nachgewiesen werden könnte, würde die Partei verboten“, sagt sie. Da das nie gelungen ist, fühlt sich Chambon berechtigt, Medien und Politiker des „intellektuellen Terrorismus“ zu bezichtigen.

Die 53jährige ist eine weltläufige Person. Sie ist im Ausland aufgewachsen, für ihre Arbeit in einem „amerikanischen Laden“ reist sie viel in der Welt herum, und sie spricht mehrere Sprachen. Des Elsässischen aber, das die alten Leute in den „Winstub“ der Altstadt viel sprechen, ist sie nicht mächtig. Diesen „Dialekt“ will sie erst lernen, wenn sie Bürgermeisterin ist. Persönlich ist es ihr viel wichtiger, Deutsch zu lernen. Als Bürgermeisterin würde sie außerdem die Immigration beenden, Scheinehen verhindern, Sozialleistungen bevorzugt an Franzosen vergeben, kommunale Referenda abhalten und eine Bürgerwehr einführen. Auf ihrem Wahlplakat informiert sie ganz sachlich und ohne aggressive Bilder über diese Vorhaben.

Der Festkalender, der die Jahreszeiten in Obernai bestimmt, ist so prall gefüllt wie eh und je. Besonders im Sommer jagt eine Feierlichkeit die nächste. Eine Woche später halten die Obernois einen Anglerwettbewerb und ein Bogenschießen ab. Im Oktober schließlich feiern sie ein Weinlesefest, wie es sich für einen Winzerort der „Route de Vin“ gehört.

An Gelegenheiten, die rotweißschwarze Elsässer-Tracht anzulegen, mangelt es in Obernai nicht. Die roten, grünen und gelben Fachwerkhäuser und die glänzenden Intarsienarbeiten auf den Schrägdächern sind so gepflegt, als seien sie gerade erst entstanden. Der Brunnen vor dem Rathaus wird mit Schaum geputzt.

Die zahlreichen Touristen aus „Innerfrankreich“, wie die Elsässer sagen, und aus Deutschland wissen derlei Traditionspflege zu schätzen. Doch vielen Obernois reicht das nicht. „Früher“, sagen sie gern, „war es hier viel ruhiger.“ Manche fügen hinzu: „Und viel ordentlicher.“

Wann dieses „früher“ exakt war, ist schwer nachzuvollziehen. Mit den deutschen Nazis jedenfalls hat es nichts zu tun – sagen die Obernois. Im vergangenen November feierten sie ausgelassen den 50. Jahrestag der Befreiung. Schon eher läßt sich das „früher“ auf jene Zeit datieren, als die Störche noch nach Obernai kamen. Es ist erst ein paar Jahre her, daß das letzte Paar ausblieb. „Das war die Schuld des Bürgermeisters“, sagt ein alter Mann, „der hat das Nest falsch reinigen lassen.“

Heute schmücken Störche aus Kunststoff die Vorgärten der Obernois. In den Schaufenstern der Souvenirläden klappern sie zwischen elsässischem Gewürzbrot und pralinierten Storcheneiern. Vor einem Hausgiebel am Marktplatz hat ein besonders nostalgischer Obernois ein komplettes Storchennest mit Küken aus Plastik installiert.

„Die Menschen können mit der Freiheit wenig anfangen“, versucht Vizebürgermeister Stintzy zu erklären, der als Lehrer dieses Phänomen kennt. Der Inhaber des türkischen Restaurants am Place des fines Herbes hat eine andere Erklärung. „Das sind doch alles Bauern hier – Bauern und Rassisten“, heißt seine Gleichung.

Am ersten Wochenende im November war das Kebab-Lokal mit den Fotos von Kayseri an der Wand Angriffsziel einer Gruppe elsässischer Skinheads. Zwanzig sperrten die Straße ab, vier schlugen die Fenster ein und besprühten den Kebabspieß und den gekachelten Innenraum mit Tränengas. Die Gäste flüchteten sich in die Toiletten. Der türkischstämmige und in Frankreich geborene Inhaber des Restaurants, der sich noch für keine der beiden Nationalitäten entschieden hat, erstattete keine Anzeige. Die Eltern der Skins bezahlten die Reparaturen in dem Restaurant.

Im Rathaus geriet die Kebab- Affäre in Vergessenheit, sobald klar war, daß die Angreifer aus anderen Orten kamen und gewöhnlich als „Alsace-Corps“ bei den Spielen des Fußballvereins „Racing“ auftauchen. Mit der „Front National“ allerdings beschäftigt sich Jean-Marie Stintzy weiterhin – auch wenn er behauptet, daß seine Arbeit nicht durch das gute Abschneiden von Le Pen beeinflußt sei. Dann sagt er einen Satz, den konservative und sozialistische Politiker in Frankreich derzeit gern benutzen, um das Phänomen zu erklären: „Die Front National stellt die richtigen Fragen, aber sie gibt die falschen Antworten.“

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