: Das größte Loch der Welt vergrößern
Die 8.000 Menschen des geplanten Braunkohlegebietes „Garzweiler II“ wollen sich nicht in sterile Siedlungen verpflanzen lassen. Auch die örtliche Kirche kämpft – „wider die Christenverfolgung“. ■ Von Bernd Müllender
Otzenrath ist ein Ort, in dem der Tante-Emma-Laden noch das Einkaufszentrum ist. Wo die Telefonzellen noch gelb und mit Münzen zu füttern sind und der halbamtliche Topkurier die meistgelesene Zeitung ist. Wo in einem Schaufenster eine Immobilienfirma mit Grunderwerb, Hausbau und den Annehmlichkeiten von Wohn-Eigentum lockt.
Und die heimische Raiffeisenbank wirbt für eine sorgenfreie Zukunft: „Wir machen den Weg frei.“
Wege gibt es hier bald nicht mehr, auch keine Häuser, keinen Baum, keinen Strauch, nicht mal mehr eine Raiffeisenbank. Nur noch ein Loch bis zum Horizont. Otzenrath ist das erste Dorf, das den riesigen Braunkohlebaggern weichen muß, wenn der „Anschlußtagebau Garzweiler II“ durchgezogen wird. Dann können die stolzen Bauherren von heute schon zum Richtfest die Sachen packen: 1997 beginnt die Umsiedlung, ab 2006 wird die 1.800-Seelen-Gemeinde verfeuert und verstromt. So hat es die SPD-Regierung zusammen mit Rheinbraun beschlossen.
Anfang der achtziger Jahre war das mit der sorgenfreien Ansiedlung noch ganz anders. Etwa für den Deutschlehrer Reiner Lange, 44, der hier eine Stelle bekam und sich dann in Otzenrath ein Häuschen kaufte. „Braunkohletagebau? Den Namen hatte ich schon gehört, aber es hieß immer, der ist in der Kölner Bucht.“ Was weit weg schien – bis eines Tages ein Spaziergang mal etwas länger dauerte und Lange plötzlich am Rand des gigantischen Kraters stand.
Wie viele andere in der Region zwischen Aachen und Düsseldorf, ist Reiner Lange durch das schmutzige Tauziehen um den Tagebau „erst richtig politisiert worden“. Heute ist er einer der Kämpfer gegen Rheinbraun und vor allem gegen die SPD-Landesregierung. Und das als Abgeordneter im Gemeinderat – der SPD.
Wie er da wohl Landtagswahlkampf gemacht hat? „Gar nicht“, sagt Lange, „so wie wir hier verarscht werden, haben wir SPDler passiven Widerstand geleistet, keine Plakate, kein gar nichts.“ Nicht mal ein Kreuz für die Genossen war drin: „Es war nicht abgesprochen, aber nach der Wahl haben wir uns alle geoutet, daß wir grün gewählt haben.“ 25 Prozent waren es in Otzenrath.
Für die Aufständler vom SPD- Ortsverein Jüchen setzte es von oben persönliche Beschimpfungen, bis zum schlimmsten, was die Sozipartei aufzubieten hat: Drohung mit Parteiausschluß.
Donnerstag abend, Bürgerversammlung in der Otzenrather Turnhalle. „Wenn Sie sich hier zurücklehnen und nichts tun, kommen Politiker auf die merkwürdigsten Ideen.“ So spricht ein Politiker, der CDU-Kreistagsabgeordnete Gerd Hachen. Gut 200 BürgerInnen sind der Einladung der „Vereinten Initiativen“ gefolgt. Sie fragen, klagen, schimpfen, fordern. Menschen, die einen sonst im Manta auf der Autobahn überholen oder auf Campingplätzen begegnen, die höchstens am Stammtisch politisch werden und an Abenden wie diesem eigentlich „Schreinemakers live“ gucken. Kernpunkt der Debatte: Soll die Gemeinde gegen die Bagger vor dem Landesverfassungsgericht klagen? Der CDU-Mann Hachen arbeitet gegen seine Partei. Die ist hier für den Tagebau, umgekehrt zu Erkelenz nebenan, dem zweiten Teilbereich von „Garzweiler II“, wo die SPD das größte Loch der Welt noch größer machen will und die CDU unter Bürgermeister Theo Clemens strikt dagegen kämpft. Initiiert hatte die (nicht verbindliche, aber politisch wichtige) Bürgerbefragung sogar die örtliche CDU-Mehrheit selbst, um einen Ausweg zu finden, sich nicht der Klage der Städte Erkelenz und -Mönchengladbach anschließen zu müssen.
Die Redner machen klar: „Anschluß“-Tagebau – das soll wie eine Selbstverständlichkeit klingen. Genauso der Begriff „Garzweiler II“ – einen solchen Ort gibt und gab es nicht. Genau wie es das Dörfchen Garzweiler zwei Kilometer entfernt nur noch als Ansammlung verfallener Ruinen gibt und das seelenlose Neu-Garzweiler als Retortenstadt mit viel Beton, aber wenig Grün und ohne Bushaltestelle und Fußballclub, ohne Post und Turnhalle. Nein, das soll mit Otzenrath, mit Spenrath, mit Holz, Immerath und Pesch niemals passieren. „Wir lassen unsere Dörfer nicht wegwerfen“, schimpft einer. Applaus.
Die „saubere Energie“ Braunkohle erleben die Anwohner seit Jahren hautnah. Lärm, Straßenbau, der feine Sandstaub in der Luft. „Und die Arbeitsplätze, die heute versprochen werden“, sagt eine aus dem Publikum, „sind morgen schon abgebaut, bevor sie geschaffen sind“. Einer nennt Zahlen. Die neuen, angeblich saubereren Kraftwerke haben nur noch ein Viertel der Planstellen der alten Dreckschleudern.
„Und selbst wenn“, schimpft die Frau, „sind viele der Leute, denen heute die Jobs versprochen werden, längst zu alt.“ „Mein Enkel ist heute 11“, sagt ein Redner, „da hat der fast die Rente durch“. Ein anderer: „Wir dürfen uns nicht müde und mürbe machen lassen.“ Die Versammlung schließt mit einem Aufruf zur Abstimmungsmobilisierung durch Telefonkette.
Nebenan in Holzweiler lebt Gisela Irving, 59, von Beruf Hausfrau. Bis ihr vor gut zehn Jahren klar wurde, daß auch ihr 1.100 Jahre altes Dorf weggegraben werden soll, ist sie „voll in den Widerstand eingestiegen“. Proteste, Initiativarbeit, Fackelzug und Diskussionen mit Nachbarn und Zweiflern. „Wir sind die berühmten Alten“, sagt die vehemente Frau, „wir werden keine Ruhe mehr haben bis zum Tod. Alle fragen sich: Packt Dich der Bagger noch? Lohnt noch ein Umzug? Wann wirst Du sterben?“ Eine sehr katholische Nachbarin habe ihr mal verzweifelt gesagt: „Nicht mal in der Erde hast du hier deinen Frieden.“ Wenn der Bagger kommt, werden in Rheinbraunland die Friedhöfe umgepflügt.
Das Leid, auf dem „braunen Gold“ zu leben, ist nicht erst das Wegbaggern der Heimat selbst, auch nicht die Umsiedlung. Sondern der lange Weg dahin. Es ist die quälende Unsicherheit, jahrzehntelang und damit für viele lebenslänglich. „Heute bist du absolut macht- und chancenlos“, sagt Gisela Irving, „niemand außer Rheinbraun würde hier mehr etwas kaufen. Und es ist ja nicht so, daß die freundlich zu dir kommen. Du mußt dich irgendwann nach Jahren vergeblichen Hoffens aufmachen und zu denen hingehen, und um Verkauf bitten.“
Eine Entschädigung „Alt gegen Neu“ gibt es nicht bei Rheinbraun. Jeder wird von den Rheinbraun- Profis mit Verkehrswert abgespeist. „Umsiedlung ist das nicht, sondern Vertreibung“, hatte ein Initiativen-Redner auf der Bürgerversammlung gesagt.
„Viele Leute“, sagt Gisela Irving, „haben anfangs naiverweise geglaubt, wenn Rheinbraun kommt, wirst du mit vielen Hektar Land vielleicht Millionär. Aber das Gerücht haben wir gebrochen.“ Statt dörflicher Gemeinschaft, Nachbarschaft und Vereinsleben folgt sterile Siedlung. Und ein finanzielles Abenteuer. „Wir haben es in Neu-Garzweiler erlebt“, sagt Reiner Lange, „nachher ist bei vielen die Verschuldung so hoch, daß beide Ehepartner, so sie überhaupt einen Job finden hier, arbeiten müssen, um für die Zinslast aufzukommen.“
Die Raiffeisenfiliale Otzenrath wird ihre Existenz mit einem prächtigen Geschäftsergebnis beenden. Auch die Kirche widersetzt sich. Von den Kanzeln wird „wider die Christenverfolgung“ gepredigt, Karfreitag wurde das Schicksal der Dörfler gar mit dem Leidensweg Christi verglichen. In Holzweiler ziehen sie sonntags mit großen Holzkreuzen zu Bittprozessionen los. Als kürzlich der neue Bischof des Bistums Aachen, Heinrich Mussinghoff, seine feierliche Antrittsrede plante, fragte er seine Mitarbeiter, ob er wohl auch seine Meinung zu Garzweiler andeuten solle.
Ein Referent deutete dem Oberhirten an, was er heute so ausdrückt: „Schon beim Wort Garzweiler springt ihnen der Rau mit dem Arsch ins Gesicht.“ Verkraftbare Visionen für einen Bischof – und so hob er an zur bibelfernen Rheinbraun-Parabel: „Wenn das Grundwasser des menschlichen Lebens abgepumpt wird ...“ Rau blieb sitzen.
Abends, bei Pils und Alt im „Jägerhaus“, stöhnen sie über den neuen Medienauflauf. Acht Kamerateams, sagt einer, waren in einer Woche vor seiner Haustür. Nächste Woche kommen das Time Magazine und das australische Fernsehen. Der Kirchenreferent vom „Büro für Tagebaubetroffene“ bereitet sich auf das Interview der BBC vor: „Was heißt eigentlich Tagebau auf Englisch?“
Gisela Irvings Ehemann Duncan, ein Schotte, weiß das natürlich. „Aber für die Riesenbagger und für Vertreibung“, sagt er, „gibt es im Englischen keine Übersetzung. Diese Ausmaße an Verbrechen kennen wir nicht.“
Auch die Jüngsten machen mobil. Merlin, 7, und Tamara, 8, machen mit einem Kassettenrecorder Straßeninterviews. Tamara: „Wir wollen alles gegen Rheinbraun unternehmen.“ Und Florian hat sogar schon Befürworter ausgegraben: „Die sagen, wegen der Energie sind sie dafür. Diesen doofen Rheinbrauns ist völlig furz, was aus uns wird.“ Bei der Umfrage einer 3. Klasse in Immerath antworteten Kinder auf die Frage nach ihrem größten Wunsch: „Daß wir bitte hier bleiben dürfen.“ Duncan Irving: „Schon bei den Kleinen ist das so schlimm. Das größte Loch ist nicht das vor der Haustür, sondern das psychologische Loch.“
Bei der Abstimmung am Sonntag in Otzenrath waren 66 Prozent für eine Klage, in Nachbargemeinden teilweise noch mehr. Aber sind denn die anderen Dörfler für die eigene Vertreibung? Rund 80 Häuser (rund ein Viertel) in Otzenrath sind bereits von Rheinbraun für die eigenen Mitarbeiter aufgekauft.
Im Wahlbüro freut sich Reiner Lange, daß der Poker der CDU- Tagebaubefürworter daneben ging: „Ein klares Votum: Mach et, Otzenrath.“ Ein alter Mann zum anderen: „Jetzt kannst du deine Blumen vielleicht doch noch pflanzen, Heinz.“
Heute abend fahren die Otzenrather, Kuckumer, Kückhovener und Borschemicher nach Bonn. Auf dem Rhein wollen sie Vertreter der rot-grünen Verhandlungspartner „klar und unüberhörbar“ zum Rapport auf ihr Charterboot bitten.
Im Redemanuskript des Dechanten von Erkelenz steht: „Eine Umsiedlung ist unzumutbar und nicht sozialerträglich.“ Falls die Grünen noch umkippen, ist vorgedacht. Das Dechanat hat beschlossen: An Rheinbraun wird kein Quadratmeter Kirchengrund verkauft. Soll Laienprediger Rau doch die Kirche enteignen lassen.
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