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Der kleine König von Linden

■ Ein Bürgermeister, ein Journalist und die seltsame Geschichte einer Geschwindigkeitsüberschreitung

Linden ist eine kleine Stadt in Hessen. Gerade einmal fünf Kilometer entfernt von Gießen leben rund 12.000 Menschen ein nettes Leben. Die Ortsteile Großen-Linden und Leihgestern wurden 790 zum ersten Mal urkundlich von einem Mönch erwähnt und haben sich seitdem prächtig entwickelt. 1977 entstand durch Zusammenschluß der Gemeinden Großen- Linden und Leihgestern die Stadt Linden. Regiert wird die junge Stadt seitdem ununterbrochen von demselben Bürgermeister – Dr. Ulrich Lenz, Agrarökonom aus Gießen. Zwar regieren der heute 51jährige Lenz und seine CDU/ FWG-Koalition mit nur einer Stimme Mehrheit, aber die Arbeit des CDU-Mannes wurde jüngst von der Bevölkerung eindrucksvoll bestätigt: Bei der Bürgermeisterdirektwahl am 4. Dezember letzten Jahres stimmten 69 Prozent für Ulrich Lenz.

Unsere Geschichte beginnt am 23. März 1993. Dr. Marianne Ebsen-Lenz, Ehefrau des Lindener Bürgermeisters, hat es eilig. Sie ist mit ihrem Wagen unterwegs auf der Strecke zwischen Salzgitter und Braunschweig, auf dem Beifahrersitz ihre Mutter. Es regnet. Plötzlich blitzt am Straßenrand etwas auf, aber die beiden Frauen nehmen davon weiter keine Kenntnis. Ein kurzer Blick auf den Tacho hätte Marianne Ebsen-Lenz aufgeklärt: Statt der erlaubten 80 Stundenkilometer wurde ihr Fahrzeug von einem Radargerät mit genau 112 Stundenkilometern geblitzt.

Am 6. Mai wendet sich die Stadt Salzgitter ordnungsgemäß an die Stadt Linden. Dort legt ein Mitarbeiter das Schreiben seinem Vorgesetzten Dr. Lenz vor. Der kann, wie sein Mitarbeiter, die Fahrerin auf dem Foto nicht erkennen. Bei genauerem Hinsehen wird ihm aber klar: Es ist seine Frau. Und dann macht Ulrich Lenz etwas, was er besser gelassen hätte: In einem ausdrücklich „persönlichen“ Schreiben wendet er sich, in seiner Funktion als Bürgermeister, am 25. Mai direkt an den Oberstadtdirektor der Stadt Salzgitter, Detlev Engster: „Da mir die Nummer des Fahrzeugs bekannt ist, sah ich mir die Bilder an und konnte meine Schwiegermutter erkennen. Deshalb kann der Fahrer meine Frau sein. Die Bildqualität ist allerdings so schlecht, daß das Gesicht nicht zu erkennen ist.“

Weiter erklärt Lenz, daß die Stadt Linden in ähnlich gelagerten Fällen stets das Nachsehen gehabt habe, und endet nett, aber bestimmt: „Ich möchte Sie bitten abzuwägen, ob Sie es für sinnvoll halten, dieses Ordnungswidrigkeitsverfahren weiterzubetreiben. Meine Frau und ich sehen Ihrer Entscheidung mit freundlichem Gruß entgegen.“ Lenz nennt ein solches Vorgehen später einen „kollegialen Hinweis“.

In Salzgitter nimmt man die Angelegenheit nicht ganz so auf die leichte Schulter. Zwar wird das Bußgeldverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Doch Ulrich Lenz bekommt nach langem behördlichem Hin-und-Her-Geschiebe vom zuständigen Landrat Rüdiger Veit (SPD) eine schriftliche Belehrung und – damit verbunden – eine Ermahnung. Laut Paragraph 73 des Hessischen Beamtengesetzes hätte der Bürgermeister nie und nimmer selbst in ein Verfahren gegen eine Angehörige einschreiten dürfen.

Und dann passiert, was passieren muß, die Geschichte wird zur Mediengeschichte. Ein Informant kontaktiert den für den Bereich Linden zuständigen Redakteur der Gießener Allgemeinen, Jörg-Peter Schmidt. Der recherchiert und verabredet auch einen persönlichen Termin mit Ulrich Lenz. Dieser bittet ihn um Aufschub, weil gerade seine Schwiegermutter gestorben sei. Die Redaktion entscheidet sich allerdings anders: Am 4. Januar 1995 erscheint der Artikel, der die Angelegenheit aufdeckt. Verantwortlich ist Redakteur Schmidt, seinen LeserInnen unter dem Kürzel „js“ bekannt. Hatte es schon vorher Spannungen zwischen Lenz und „js“ gegeben, spitzt sich die Lage in den nun folgenden Wochen weiter zu. Während eines Telefongesprächs zwischen den beiden erklärt Lenz den Journalisten wörtlich zur Persona non grata.

Am 17. Mai kommt es dann zum vorläufigen Höhepunkt. Als eine Bürgerinitiative Ulrich Lenz in dessen Amtszimmer eine Unterschriftensammlung überreichen möchte, ist „js“ zur Stelle, wie es sich für einen Journalisten gehört. Lenz wird wütend, zeigt in Richtung Schmidt und läßt verlauten: „Sie bleiben draußen.“ Die später eintreffenden Journalisten des Gießener Anzeiger und die Fotografin der Allgemeinen dürfen das Amtszimmer aber betreten. Außerdem fordert Lenz die Verlagsleitung der Gießener Allgemeinen auf, „den Redakteur Schmidt zu ersetzen“. Er, Lenz, wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Daraufhin läuft das Faß über: Kollegen Schmidts wollen mit der Geschichte an die Öffentlichkeit, werden aber von der Verlagsleitung abgeblockt. Dr. Christian Rempel, Chefredakteur der Gießener Allgemeinen, will die Sache unter Ausschluß der Öffentlichkeit klären: „Möglicherweise hat Lenz einfach überreagiert.“

Journalisten des eigenen Hauses und die Gießener Ortsgruppe des Hessischen Journalistenverbands sehen das freilich anders. Der erste Vorsitzende der Ortsgruppe, Hans J. Friedrich, ist empört. Er verfaßt am 22. Mai eine Pressemitteilung, in der er „sein Befremden“ über die Handlungsweise von Lenz ausdrückt. Die Meldung wird jedoch nie abgedruckt: Zwei andere Vorstandsmitglieder des Journalistenverbandes haben interveniert. Hans J. Friedrich, seit 20 Jahren Vorsitzender der Gießener Ortsgruppe, zeigt sich noch heute verärgert: „Vom Standpunkt des Journalisten aus gesehen war das absolut unmöglich.“

Auch Chefredakteur Rempel stellt sich „hundertprozentig hinter meinen Redakteur“ und bekräftigt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welcher Mitarbeiter welches Ressort bearbeitet.“ Bürgermeister Lenz dagegen kündigt auch weiter jedem an, der es hören will, er wolle den mißliebigen Redakteur „nicht mehr sehen“. Der könne weder schreiben noch „die menschliche Sphäre berücksichtigen“. Wenn er wieder auf einem Pressegespräch auftauche, werde er, der Bürgermeister, „das Gespräch sofort abbrechen und ihn wieder des Raumes verweisen. Der bekommt von mir keine Informationen mehr.“

Letzte Woche hat die Chefredaktion der Gießener Allgemeinen mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Lenz bei Landrat Veit reagiert. Der Bürgermeister sieht der Angelegenheit noch, wie er sagt, in aller Ruhe entgegen. Und seine Frau Marianne Ebsen- Lenz, die mittlerweile die Kreisvolkshochschule Gießen leitet, will sich überhaupt nicht mehr äußern: „Für mich ist die Sache geklärt.“ Christoph Amend

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