: Das Theater als unmoralische Anstalt
Heiner Müller, der Unberührbare: ein soldatischer, kerniger Mann / Eine Kritik der Ästhetik der Gewalt und des deutschen Härtekitsches in Theatern und Kinos ■ Von Halina Bendkowski
Vorhang auf
Wenn TheoretikerInnen die Theorie ausgeht, zitieren sie gerne die Kunst oder bemühen die Mythen. Was bleibt einem auch sonst, das Leben ist ja wirklich theoretisch redigiert oder gar standardisiert, schon etwas gräulich. Vor kurzem sah ich einen witzig langatmigen Film: „Liebes Tagebuch“ von Nanni Moretti. Nanni Moretti verfolgt darin einen Kritiker, der die Brutalitäten von John Naughtons Film „Henry – Portrait of a Serial Killer“ in wuchernden Metaphern cineastisch poetisierte. Das war mal eine schöne filmische Rache der ästhetischen Vergeilung der splatternden Gewalt. Aber eben auch nur eine harmlose Ausnahme im kathartischen Gewaltrausch der Kulturproduzenten. Ihre Erkenntnis gleicht immer mehr einem Bekenntnis: Gewalt muß sein, Gewalt ist Wahrheit, Gewalt schafft Klarheit. Diese Kunst braucht den ganzen Mann. Und nur richtige Männer setzen Männern, die noch nicht recht Männer sind, mächtig zu.
Wer erinnert nicht Theaterstücke, in denen Männer wie Archetypen über die Bühne holzen, stürzen, torkeln? Immerzu brüllt es aus ihnen, ihre Triebe treiben sie an, trinken können sie nie, ohne daß ihnen der Wein über Rock und Schoß strömt. Und doch, ganz anders als im wirklichen Leben, lassen sich die Frauen auf der Bühne nicht davon abhalten, diese Kotzbrocken leidenschaftlich zu lieben. „Ist das deutsch?“ fragten beim letzten Berliner Theatertreffen im Mai 1994 US-amerikanische TheaterkritikerInnen, für die ich bei den Aufführungen grob übersetzen mußte.
Wie sollte ich ihnen diese Frage beantworten? Ich kenne solche Männer nicht, aber vielleicht kenne ich halt die falschen.
Erster Akt
In den USA, genauer gesagt, in New York, wird man, wenn man sich in Theaterkreisen aufhalten muß, immerzu nach Heiner Müller befragt. Er prägt, ob wir nun wollen oder nicht, unser, ihr Bild von den Deutschen, theatralisch gesehen. Heiner Müller ist ein Superman, in der USA-Theaterwelt die korrekte Übersetzung des Übermenschen. Heiner Müller wird gerne interviewt, denn er hat was zu erzählen. Er ist ein Materialist im besonderen Sinne des Wortes. Es ist ihm alles Material. Sein Buch „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“ (1992) ist eine Fundgrube teutonischer Männerlichkeit. Die devote Befragungsarbeit wurde von zwei Frauen und einem Mann, Katja Lange-Müller, Renate Ziemer und Helge Malchow, besorgt. Wichtig ist Heiner Müller seine Unberührbarkeit, seine Unabhängigkeit, die, anders als bei Christa Wolf, auch seine Stasi-Connection als Materialsuche verherrlicht. Nicht, ob es in seinem Fall stimmt, interessiert mich daran, sondern sein Anspruch und die tatsächliche mediale Reaktion darauf, seine Freiheit als eine andere zu betrachten als die von Christa Wolf. Zitat Heiner Müller: „Ich konnte nie sagen, ich bin Kommunist. Es war ein Rollenspiel. Es ging mich im Kern nie etwas an. Ich habe oft gesagt und behauptet, daß ich mich mit dieser Gewalt, mit diesem Terror identifizieren konnte, weil es eine Gegengewalt war, ein Gegenterror gegen den vorigen. Das ist vielleicht schon eine Konstruktion. Im Grunde bin ich da unberührt durchgegangen.“ Von der Interviewerin gibt es dazu keine weitere Nachfrage. Der Kern ist seine Sache. Heiner Müller ist ein kerniger Mann. Und ein Kern kennt keinen Schmerz. Zitat: „Ich weiß nicht, ob mir das wichtig war, diese SED- Mitgliedschaft, politisches Engagement überhaupt. Nein, so einfach ist das nicht. Natürlich hat es mich beschäftigt, aber es gibt da einen Kern, der von allem unberührt war bei mir. Der war von der Nazizeit unberührt und von der Zeit danach auch.“ Wie persönlich er auch Fragen beantwortet, immer ist es ihm wichtig, seine Unerschütterlichkeit zu demonstrieren. Die Flucht seiner Eltern im Jahre 1951 in den Westen, gegen seinen Vater lief ein Parteiverfahren, kommentiert er folgendermaßen: „Wenn ich versuche, mich an meine damalige Befindlichkeit zu erinnern, muß ich sagen, mich hat eigentlich nichts erschüttert. Das war für mich alles als Erfahrung interessant, alles war Erfahrung. Ich kann mich nicht erinnern, daß mich da etwas besonders betroffen gemacht hat.“
Frauen, wen wundert es, erscheinen hier und da als Objekte dekorativer Ornamentalistik: „Er hatte eine blonde, sehr langbeinige Frau, die ein begehrtes Objekt war, und bei ihm sah ich zum ersten Mal eine Wohnung, wo an der Wand ein lederner Phallus hing.“ Auch in der DDR war man ledermäßig ganz up to date. Frauen haben Beine oder Brüste, die erwähnenswert sind, oder bringen Männer in peinlicher Weise in Schwierigkeiten, weil sie Kinder kriegen. Auf die Frage, ob sein Umzug aus Sachsen nach Berlin auch persönliche Gründe gehabt habe, antwortet er: „Es war auch eine Flucht vor der Schwangerschaft meiner Freundin in Frankenberg. Ich habe Schwangerschaften immer als Freiheitsberaubung betrachtet. Brecht: ,Aber Kinder fürchtet sogar Baal. Kinder machen erpreßbar und abhängig.‘“ Die zweite Frau, Inge Müller, die ihm seinen ersten festen Wohnsitz in den 50er Jahren bereitstellt, ist ein geeignetes Objekt seiner „proletarischen Gier“, weil sie der dortigen Oberschicht angehört. In den 80er Jahren wurde feministisch skandalisiert, daß Heiner Müller seine Frau Inge in den Selbstmord getrieben hätte. Mir gefallen solche Art Skandalisierungen nicht, denn sie geben vor, zu viel zu wissen. Sie sind anmaßend.
So hat sich Heiner über Inge Müller geäußert: „Es war schwer für sie, sich freizuschreiben, auch frei von mir, außer in den Gedichten, die ich eigentlich erst nach ihrem Tod in ihrer Qualität erkannt habe. Das war ihre eigene Welt. Manchmal hat sie mir einige gezeigt, ganz selten. Sie waren mir fremd. Ich habe gemerkt, wenn ich ihr Verbesserungen vorschlug, wurde etwas anderes daraus, etwas für sie Falsches, deswegen ließ ich dann die Finger davon.“
Ihm war das Schreiben wichtiger als die Moral. Mit solch einer Haltung ist Heiner Müler eigentlich fein raus. Anpassung, die in der DDR Selbstkritik hieß und die er durchaus übte, wird von ihm zum Material stilisiert. Das Werk heiligt alle Mittel und relativiert alle Geschichte, die andere ausschwitzen müssen. Zur Verstärkung bezieht er sich auf Bertolt Brecht: „Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht geworden, sondern ein Erfolgsautor. Dreigroschenoper, Mahagonny, das wäre glänzend weitergegangen, aber Gott sei Dank kam Hitler, dann hatte er Zeit für sich.“ Heiner Müller interessiert sich für das Theater der Grausamkeit, als Eingriff in das Bewußtsein, Angriff auf falsches Bewußtsein und Zerstörung von Illusionen. Carl Schmitt ist für ihn Theater. Seine Texte erscheinen ihm als Inszenierungen: „Mich interessiert da nicht, ob er recht hat oder nicht.“
Es geht ihm eher um Erfahrung als um Erkenntnis. Der Faschismusvorwurf gegen Ernst Jünger ist für ihn Polemik: „In einem Vorgang wie dem der Sommeschlacht war der Angriff so etwas wie eine Erholung, ein geselliger Akt. Das ist ein Satz, der mir schon damals sehr einleuchtete, Jünger beschreibt seine Erfahrung der Materialschlacht, der man mit Pazifismus nicht beikommt, nicht mit einer moralischen Position. Die Sommeschlacht war eine der ersten großen Materialschlachten.“ Jünger hat Heiner Müllers Meinung zufolge ein Jahrhundertproblem. „Bevor Frauen für ihn eine Erfahrung sein konnten, war es der Krieg.“ Offensichtlich teilt Heiner Müller ein Jüngersches Glück. „Er hatte eine ganz jugendliche, fast kindliche Freude daran, ein böser Junge zu sein.“ Heiner Müllers Analyse: „Jünger hat vor nichts Angst als vor Frauen.“
Zweiter Akt
Er selbst ist da schon von anderem Kaliber und als Mann gewaltig selbstherrlich von Jugend an. Er erinnert sich mit Hochachtung an seinen Deutschlehrer in Sachsen, dem er folgendes Zitat aus „Jubiaka“ von Amado zu verdanken hat: „Der Held war ein Neger auf Montage, der onaniert, weil er allein ist, und seine Hand war die Frau.“ Dieser Art von Einsamkeit hat sich Herr Müller fortan souverän zu bedienen gewußt. Als Schüler hatte er hier und da noch einige kleine Probleme zu vermelden: „In Geographie hatte ich Schwierigkeiten, weil ich mit der Tochter des Lehrers geschlafen hatte. Er hatte mir beim Abitur die schwierigsten Fragen gestellt.“ Doch später gab es dann keine Väter mehr, und die Töchter, die er beschlief, waren nur insofern erwähnenswert, als er sie beschlief. Bei den Ödipus-Proben 1966 hat er seine dritte Ehefrau Ginka Tscholokowa kennengelernt. Wir erfahren: „Sie arbeitete da als Praktikantin, studierte Theaterwissenschaften in Berlin. Sie war Bulgarin und mit einem Bulgaren seit Jahren verlobt, einem Sohn aus einer Beamtenfamilie. Sie war schon zweimal einem Hochzeitstermin durch die Flucht entwichen, einmal nach Südfrankreich, einmal nach Italien. Und dann habe ich mit ihr geschlafen, der dritte Hochzeitstermin stand ins Haus.“
Dritter Akt
Der Hochkultur entspricht durchaus die diskursanalytisch hochgepeppte Subkultur, die besonders in der taz liebevoll gepflegt wird. Die Präsenz des Bösen, die Würde der Gewalt, die Konstanz des Schreckens wird als antiideologische Befreiung zelebriert. So wie Heiner Müller von Charles Manson fasziniert ist, weil der doch weniger Leute umgebracht hat als Nixon oder alle anderen US-amerikanischen Präsidenten und dabei so lyrisch werden konnte – „kill all people who don't hear the song oft the sun“ –, so werden Sex and Crime, Filme des Underground besonders dafür gelobt, daß sie auf jedwede Pseudolegitimation der dargestellten Gewalt verzichten. Gewalt sei die Wahrheit des Mannes am Abgrund auf seinem langen und verfehlten Weg zur Frau, schreibt Georg Seeßlen, ein anerkannter Filmkritiker, gemütlich über seinen Lieblingsrepräsentanten des Hollywood-Kinos, Harvey Keitel. Eine Wahrheit, die dieser seiner Meinung nach am gelungensten in „Snake Eyes“ demonstriert. Man könnte das genervt als Quatschjournalismus abtun, wenn man auch mal etwas anderes zu lesen bekäme. Aber wer will heute noch kritisch sein, wenn Kritik als political correctness, p.c., desavouiert ist?
„Sadismus und Brutalität ist mittlerweile auf den Bühnen allgemein geworden und ist selbst schon ein Ausdruck des neuen Stils“, schreibt Hannelore Schlaffer in der Neuen Rundschau. Ihre Rezension der Essaysammlung von Fritz J. Raddatz, „Männerängste in der Literatur“, betitelt sie als die „Emanzipation der Männer“ – und das meint ihrer Analyse zufolge das Verschwinden der Frauen von den deutschen Theaterbühnen. Die harten Burschen teilen sich allein die Bühne der Selbstdarstellung und geben sich tumber als jeder Personalchef, der mit den Sollvorgaben der Gleichstellungsgesetze zu kämpfen hat. Den Vormarsch der Frauen im Realleben strafen sie mit dem Abmarsch der Frauen von den Bühnen. Ihr Bühnenzauber, dem sie spielerisch erliegen, wird immer gewalttätiger. Julie Burchill, eine englische Rock-, Pop- und Theaterkommentatorin, amüsiert sich über die britische Variante dieses Phänomens und läßt uns wissen: Es ist der pathetische Männlichkeitswahn vieler Schriftsteller, der Drang, sich in heroische Posen zu werfen, der mich davor zurückschrecken läßt, mich als Schriftstellerin zu bezeichnen. Dort wie hier scheint der Boxer der meistverfehlte Beruf ihrer Kollegen zu sein. „Was macht unseren schreibenden Kollegen mit den harten Fäusten denn nun eigentlich so zu schaffen?“ fragt Julie Burchill. „Offenbar sind sie sich nur allzu schmerzlich bewußt, daß die meisten Leute es als eine ziemlich unmännliche Arbeit betrachten, den ganzen Tag in einem geheizten Zimmer zu hocken und sich Geschichten auszudenken.“ Diese Schmach muß dann mit allen möglichen Selbstinszenierungen kompensiert werden.
Bezogen auf Heiner Müller, scheint Burchill nicht unrecht zu haben. Der Titel seiner Autobiographie, „Krieg ohne Schlacht“, ist von diesem Mann auch so gemeint. Es war immer Krieg für ihn, und so war er auch in Friedenszeiten immer im militärischen Einsatz für seine Helden, die tapfer auf der Bühne um sich schlagen. Heiner Müller ist ein deutscher Mann, und die Härte ist sein Gütezeichen. Anders als in den USA, wo die Beschäftigung mit den Frauen unausweichlich bleibt, gelingt es in Deutschland den Autoren und den Regisseuren, das Rad noch einmal zurückzudrehen. Ganz im Auftrag Heiner Müllers üben Frank Castorf und Christoph Schlingensief die Rolle der bad boys: „born bad“ eben. Ein Kulturbürokrat des Theaterfestivals '95 paraphrasiert die diesjährige Auswahl der Stücke: „Erwachsen werden heißt schlachten lernen“. Daß dieses Schlachtfest mit aller Härte inszeniert wird, analysiert keine Kritikerin als deutschen Härtekitsch. Diese natürlich auch von Theaterfrauen kopierte Kälteästhetik steht im eigentümlichen Widerspruch zu der „entpolitisierenden“ Dekonstruktionsdebatte in der Geschlechterauseinandersetzung. Die DekonstruktivistInnen suchen Trost und Erneuerung des Feminismus in der Verabschiedung von Identitäten und Sicherheiten. Die Theatermacher in Deutschland dagegen beschwören Archetypen heraus. Gerade weil sie vorgeben, endlich antiideologisch zu agieren, mutieren sie zu Herrschaftsagitatoren.
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