■ Mißtrauensvotum gegen die russische Regierung: Bösewichte um jeden Preis
Mit ihrem gestern ausgesprochenen Impeachment gegenüber der Regierung sind die Abgeordneten der russischen Duma im politischen Kesseltreiben zwischen der Tragödie von Budjonnowsk und den bevorstehenden Wahlen plötzlich flügge geworden. Neun Monate lang duldeten es die Deputierten, daß Präsident Jelzin, Verteidigungsminister Gratschow, Innenminister Jerin und Geheimdienstchef Stepaschin einen Krieg führten, den das Parlament niemals gebilligt, sondern, im Gegenteil, zu dessen Beendigung es periodisch aufgerufen hat. Als sich nun die Macht-Minister unfähig zeigten, die von ihnen versprochenen „Maßnahmen zur Verhinderung von Terrorakten“ wirksam werden zu lassen, konnten die Parlamentarier die demütigende Demonstration eigener Ohnmacht nicht länger dulden. Die Köpfe der Bösewichte waren ihnen nun jeden Preis wert.
Der gegenwärtigen Verfassung zufolge muß sich eine Entscheidung des Parlamentes über seine Haltung zum Kabinett an die Prämisse halten: alle oder keinen. Der Präsident hat jetzt die Wahl. Entweder er pensioniert die ihm nahestehenden Minister Pawel Gratschow, Viktor Jerin und Sergej Stepaschin und rettet damit das Kabinett Tschernomyrdin. In diesem Falle zerbröckelte mit Sicherheit die Antiregierungsfront in der Duma, und es käme nicht zu dem erforderlichen zweiten Votum, ohne das das Impeachment nicht gültig ist. Falls Jelzin aber seinen Getreuesten die Stange hielte, müßte er entweder die Duma auflösen oder den Ministerpräsidenten in die Wüste schicken. Vor einer direkten Konfrontation mit dem Parlament dürfte der Präsident nach den Erfahrungen des blutigen Oktober 1993 aber zurückschrecken. Bleibt letzte Variante. Zum einen könnte Jelzin damit für eine Weile Tschernomyrdin politisch kaltstellen, der für ihn zum gefährlichsten Rivalen geworden ist. Zum anderen könnte er damit das aufmüpfige Parlament diskreditieren, indem er ihm die Verantwortung für eben diesen Schachzug in die Schuhe schöbe.
Für wahrscheinlich hält einen solchen Ausgang Jegor Gaidar. Am Vorabend der Abstimmung verkündete er: „An der Spitze der Regierung kann dann ein Mensch stehen, der für den Krieg in Tschetschenien direkt verantwortlich ist.“ Einige seiner Mitarbeiter ließen verlauten, er habe dabei wohl den Vorsitzenden des nationalen Sicherheitsratees, Oleg Soskowjez, im Auge. In diesem Falle wäre nicht nur eine Fortsetzung des Krieges, sondern auch eine Verhärtung des politischen Regimes wahrscheinlich. Auch flügge Deputierte sind noch keine Vögel. Vielleicht werden sie sich doch noch rechtzeitig vor dem zweiten Votum daran erinnern, daß sie nicht in die Höhe fliegen können, wenn sie einmal den Ast abgesägt haben, auf dem sie selber sitzen. Barbara Kerneck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen