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„400.000 Leute sitzen in einer Mausefalle“

■ Interview mit Kemal Fazlagić, Bevollmächtigter des bosnischen Roten Kreuzes in Deutschland, über die immer schlechtere Versorgungslage im eingekesselten Sarajevo

taz: Sie haben kürzlich Sarajevo besucht. Wie sind Sie in die Stadt gelangt?

Kemal Fazlagić: Durch den Tunnel. Wir sind mit dem Auto bis Hrasnica gefahren, ein Ort kurz vor Sarajevo. Dort mußten wir etwa dreieinhalb Stunden warten, bis wir an der Reihe waren, durch den Tunnel in die Stadt zu gehen. Der Tunnel ist etwa schulterbreit und knapp mannshoch. Als ich raus kam, hatte ich das sogenannte „Sarajevo-Syndrom“, nämlich eine blutende Wunde auf dem Kopf, wo ich mich gestoßen hatte.

Am Mittwoch ist erstmals seit knapp vier Wochen wieder ein Lastwagenkonvoi mit Hilfslieferungen nach Sarajevo gelangt. Der Flughafen ist seit 67 Tagen geschlossen. Gibt es wieder Hunger?

Die Situation in Sarajevo ist grauenhaft und für das 20. Jahrhundert beschämend. Die Lebensmittelration liegt jetzt pro Person täglich bei knapp 60 Gramm, einschließlich Verpackung, oder monatlich bei 1,8 Kilogramm. In einem Stadtteil gab es am Montag für eine sechsköpfige Familie eine Monatsration von 0,3 Liter Öl, 5 Kilo Mehl, 1 Kilo Reis und einem halben Stück Seife. Jetzt sind wirklich alle, auch die Deutschen, aufgerufen, die 3 Millionen Menschen in Bosnien-Herzegowina vor dem Verrecken zu bewahren.

Die eine Lieferung, die jetzt nach Sarajevo gelangt ist, wird an dieser Situation nichts grundsätzlich ändern. Wie mir Herr Ahmović, der Generaldirektor der Großbäckerei Klas (Ähre), am Donnerstag morgen telefonisch mitgeteilt hat, hat der Betrieb am Vorabend 186 Tonnen Mehl und 12 Tonnen Hefe erhalten. Um die Bevölkerung mit täglich 234 Gramm Brot pro Person zu versorgen, werden pro Tag allein 48,5 Tonnen Mehl gebraucht.

Die Serben haben die Wasser-, Strom- und Gasversorgung der Stadt unterbrochen. Wie steht es mit dem Trinkwasser?

Das Internationale Rote Kreuz und zwei andere Organisationen fangen jetzt langsam an, Brunnen zu bohren und Handpumpen zu installieren. Aber es gibt in Sarajevo nur ein oder zwei Lastwagen mit einer entsprechenden Bohrvorrichtung. Diejenigen, die die Brunnen bauen, sind sehr mutig, denn sie werden ständig von den Scharfschützen bedroht.

Was die Stromversorgung anbelangt, so gab es bei meinem letzten Besuch 100 Kilowatt Strom pro Monat für jede Familie, und das nur in bestimmten Gebieten. Telefonate waren so gut wie unmöglich, mal geht's, mal geht es nicht, das hängt vom Wohlwollen der Serben beziehungsweise der Unprofor ab, die „Serbprofor“ („Serben-schutztruppe“) genannt wird.

So geht es schon seit drei Jahren: Die Serben sitzen oben in den Bergen und drehen einfach das Wasser, das Gas und den Strom ab, und 400.000 Leute sitzen da wie in einer Mausefalle.

Wie ist die medizinische Versorgung?

Katastrophal. Ich habe das Kosevo-Krankenhaus besucht, da bringen die Leute sogar die Bettwäsche von zu Hause mit. Am Montag habe ich ein Fax vom Ministerium für Gesundheit erhalten, in dem dringend um Verbandsmaterial, Kompressen und Gaze gebettelt und gefleht wird, weil die serbischen Angreifer sogenannte Drehsplittergeschosse verwenden. Wenn diese Geschosse beispielsweise in den Unterschenkel eindringen und zersplittern, drehen sie sich im Körper weiter, treten im Oberschenkel wieder aus und reißen das ganze Fleisch auf. Dafür wären eigentlich spezielle Chirurgen nötig, die in Spanien „Torrero- Chirurgen“ genannt werden. Nicht in jedem Krankenhaus können solche Wunden geheilt werden.

Die von Ihnen koordinierte Organisation „Keine Mauer für Sarajevo“ hat Hilfsgüter durch den Tunnel gebracht. Was passiert dann damit?

In Sarajevo werden die Güter vom Logistikzentrum des Ministeriums für Soziales und Flüchtlinge verteilt. In Mostar wird das vom Gemeindeausschuß des Roten Kreuzes übernommen. Das gilt aber nur für allgemeine Hilfsgüter. Wenn wir, wie in Mostar, bestimmte Projekte unterstützen, geht die Hilfe direkt an deren Träger wie etwa den Frauenverband von Bosnien-Herzegowina, mit dem wir eine Schneiderei eröffnet haben, in der dreißig Frauen beschäftigt sind.

Wie beurteilen Sie die jüngsten Angriffe der bosnischen Armee?

Das ist eine humanitäre Aktion zur Befreiung der eingekesselten Bevölkerung. Wir müssen jetzt unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, nachdem uns die Welt seit drei Jahren auf der Nase herumgetanzt ist. Wir Bosnier werden häufig als sabur bezeichnet, das ist ein Begriff, der aus dem Arabischen kommt und besagt, daß jemand eine höfliche Geduld an den Tag legt. Damit ist jetzt endgültig Schluß. Interview: Beate Seel

Spendenkonto: Keine Mauer durch Sarajevo, Berliner Sparkasse, Bankleitzahl 100 500 00, Konto 640023983; Kontakt: 030-4166619 (Telefon und Fax).

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