: Mama & Kid Freedom
Eine Erzählung von ■ Achmat Dangor
Am Nachmittag hatte Mama sie erschießen lassen. Man hatte sie mit dem Gesicht nach Westen aufgestellt, so daß sie von der sinkenden Sonne geblendet wurden und keine Augenbinde brauchten. Als die Schüsse verklungen waren, wurden ihre verkrümmten Körper in schwere Postsäcke geworfen und weggeschleppt. Ein Vizepräsident, ein paar Minister, ein halbes Dutzend Provinzgouverneure. In letzter Minute hatte man noch einen Staatssekretär hinzugesellt, dessen Schlitzaugen Mama als schlechtes Omen erschienen waren. Ihr Blut hatte kaum Zeit zu versickern.
Mama und Kid Freedom warteten, bis absolute Stille herrschte, dann gingen sie mit energischen Schritten zum Kabinettszimmer, wo die übrigen versammelt waren. Sie ging voraus, Kid ein paar Schritte hinter ihr; schnell hatte sich eine Ordnung durchgesetzt, die keiner Worte bedurfte. Vor dem trauerumflorten Porträt des Alten Präsidenten hielten sie kurz inne; mit seinem Tod vor ein paar Wochen hatte alles begonnen. Kid lief nun beflissen vor ihr her, so daß sie lächeln mußte. Er hielt ihr die Tür auf und starrte die stumpfen Gesichter rund um den Tisch an, bis das Gemurmel aufhörte, kein Fuß mehr scharrte, kein Stuhl mehr gerückt wurde. Dann trat er zur Seite und ließ Mama eintreten.
Vor neunzehn Tagen hatte sich Mama mitten in der Nacht im Bett aufgesetzt und laut gesagt: „Er ist tot.“ Sie ging durch die vom Mondlicht durchfluteten Zimmer der Villa, riß Türen auf und weckte ihr Gefolge mit lauter und volltönender Stimme. „Die Zeit ist da, die Zeit ist da.“ Wer zu langsam reagierte, wer gerade mit jemand anderem oder zu tief schlief, die Kälte seiner Waffe dicht ans Herz gedrückt, den weckte sie mit Tritten und Schimpfwörtern, wie man sie lange nicht mehr von ihr gehört hatte. Schlaftrunkene Apathie – mal wieder eine ihrer verrückten Nächte – verwandelte sich schnell in wache Angst. Eine dämonische Helle umgab sie, erkannten vor allem die Älteren. Viele waren sicher, daß ihre Augen geschlossen waren, als schliefe sie selbst ganz tief, selbst als sie ihre detaillierten Instruktionen zum Aufbruch gab und ständig wiederholte: „Die Zeit ist da, die Zeit ist da.“
Die ganze Nacht und den nächsten Tag saßen ihre Leute am Telefon, bis Mama bereit war, ihr „Gefängnis“ an der Mündung des Umtata zu verlassen, begrenzt von den Wänden des Meeres und dem behaglichen Schutz der windgepeitschten Bäume. Schaukelnd saß sie auf dem Aussichtssitz eines Panzerwagens, als sie über die steinige Straße in die Stadt Umtata fuhren, gefolgt von einer Einheit ernsthafter junger Männer mit nackter Brust, verschmiert mit Staub und Männerschweiß.
Die asketische Kolonne, mit Mama stoisch an der Spitze, schwoll bald zu einer Karawane singender Männer und tanzender Frauen an. In jedem Dorf, durch das sie kamen, wollten sich Menschen diesem tödlichen Zug anschließen. Ein derartiges Theater hatten sie seit der Jugendzeit des alten Präsidenten nicht mehr erlebt. Alles war besser als die langweiligen Tugenden der Geduld und Zurückhaltung, die er ihnen aufgezwungen hatte. Viele wußten nicht einmal, wer Mama war, obwohl sie vage Legenden über eine berühmte Hexe gehört hatten, die vor der Selbstgerechtigkeit der Städter im Norden geflüchtet war. Sie wußten auch nicht, warum die Fahnen auf halbmast wehten, als sie endlich auf das Rollfeld des Flughafens von Umtata strömten. Sie verstanden nicht, warum niemand in ihre frohen Lieder einstimmte und den rhythmischen Freiheitstanz mittanzte, der doch jedem vertraut war. Selbst Mama, die zwei lange Tage bewegungslos auf dem schwankenden Sitz gesessen hatte, weinte nun, als sie ausstieg und alle umarmte, die zu ihrer Begrüßung gekommen waren.
Nur Kid Freedom Mhlangu, wie er damals einfach hieß, erkannte den Sinn dieses Ereignisses, den Pomp und Prunk, der den einfachen Dörflern vorgeschwebt hatte und für den sie so weit marschiert waren. Er stieg aus dem Inneren des Truppentransporters, in dem er und andere Berater Mamas während der ganzen Reise gesessen hatten, benommen von den Benzinschwaden und dem Staub, und kletterte auf Mamas leeren Sitz. Trotz ihrer wütenden Blicke begann er zu jubeln.
„Viva Mama, es lebe die Freiheit! Tötet die Schwulen, bringt die Huren um!“ schrie er und begann zu tanzen, einen längst vergessenen toyi-toyi1 mit stampfenden Füßen und schwer schwankenden Schultern. Die Menge ließ seine Stimme in ihrer dröhnenden Antwort untergehen, aber seine Worte waren ohnehin nicht weiter wichtig. Wichtig war die Poesie des Gesangs, die Musikalität seines militärischen Schritts auf der schwankenden Bühne eines wackeligen Aussichtssitzes. Er schloß mit einem mitreißenden „Viva Mama, es lebe die Freiheit!“
Mama lächelte und verkündete, Kid Freedom, wie er in Zukunft heißen werde, solle ihr General sein; dann stieg sie die Treppe zu einem riesigen Flugzeug empor, wandte sich um und winkte in die Menge, die begeistert jubelte, obwohl sie sah, daß ihr Gefolge aus einem Schwarm unzuverlässiger Politiker bestand, abgesetzten Stammesdespoten und entlassenen Militärs. Aber diese vertrauten schrägen Gesichter ließen ihre Lobgesänge nur kurz verstummen. Die Leute spürten, daß sie an diesem Tag der Geschichte ganz nahe gekommen waren. So, das hatten ihnen ihre Eltern erzählt, war das Leben gewesen, als der Alte Präsident zum ersten Mal das Gefängnis verlassen hatte. Wie auch immer – so viel Spaß hatten sie schon lange nicht mehr gehabt.
„Dies ist mein Mandat!“ antwortete Mama ihren Kritikern und wies mit flatternden Händen auf die riesigen Fernsehschirme, die immer wieder die Szenen wilden Jubels auf dem Flughafen von Umtata zeigten. Eine gute Story, sagten die Journalisten. So eine gute Story hatten sie schon lange nicht mehr gehabt, außer beim Tod des Präsidenten. Und Trauerfeierlichkeiten geben nun mal nicht allzuviel her. Er war ein guter Mann gewesen, aber stumpf in seinen letzten Tagen und ziemlich selbstherrlich. Er duldete keinerlei tumultartigen Gefühlsäußerungen, das Einschlagen von Fensterscheiben, das Verbrennen der Flagge der Einheit.
„Unsere Leute wollen einen starken Führer“, sagte Mama. „Frische Luft zum Atmen“, fügte Kid Freedom hinzu.
In einer vom Geruch des Regens erfüllten Nacht begannen sie die Schwulen zusammenzutreiben. Wagen, Lastautos, Lieferwagen, Jeeps, sieben Cadillacs, auf einer Dienstreise in Detroit gekauft und von der Wut des Alten Präsidenten verbannt, wurden dazu benutzt. Jedes Fahrzeug, über das die Sicherheitskräfte verfügten. Die Leute wurden in Bars und Cafés aufgelesen, von der Straße geholt, wo Männer und Frauen so dumm waren, trotz aller Putschgerüchte in der warmen Frühlingsluft spazierenzugehen. Andere wurden aus ihren Wohnungen geholt, die Köpfe mit Kapuzen verhüllt. „Man weiß nie, wer ein Homo ist“, sagte ein Sprecher. „Wir müssen uns von diesem Gezücht befreien.“ Als diese plötzlich vertraute Fanfare zuknallender Wagentüren und kreischender Reifen vorüber war, wurde es still in den Straßen. Die Schwulen waren fort, und der Rest war in die Häuser geflüchtet. In verdunkelten Wohnungen zählten Mütter die Silhouetten der Köpfe, bemerkten mit erregten Aufschreien das Fehlen eines Sohnes, einer Tochter, eines Gatten. Die Menschen begannen, sich flüsternd und in selbsterdachten Geheimsprachen zu unterhalten, sie fanden Tarnnamen für Polizei und Politiker, für Gefängnisse und Tod, für ihre Kinder oder Frauen oder Männer oder Liebhaber auf der Flucht. Genau wie in der alten Zeit, bevor der Alte Präsident aus dem Gefängnis kam.
Macht euch keine Sorgen, Ingolovane2 wird sie kriegen, Mama und ihresgleichen, sagte jemand.
Kid Freedom saß in seinem Büro auf Hero's Heights, getröstet durch das Geplappere im Kommandoraum nebenan. Da wurden Zahlen aufgelistet, die Kapazitäten von Gefängnissen und Internierungslagern berechnet. Irgendwer schlug vor, Robben Island wieder in Dienst zu nehmen. „Die ganze Kaphalbinsel ist voller Scheiß-Moffies3. Die Gefängnisse sind voll!“ „Hey, Kid hört zu“, sagte eine Stimme.
Die Tür schloß sich, und Kid blieb allein. Alleinsein ließ ihn unsicher werden, als wäre da noch eine andere Person im Raum. Er mußte das abschütteln. Paranoia. Der Streß, die Verantwortung. Er schaute sich im Büro um, auf die Wände ohne Fotos und Schmuck, den polierten Schreibtisch mit seinen sauberen Stapeln Geheimakten, den teppichlosen Boden – ein spartanisches Soldatentum, das ihn mit Stolz erfüllte. Er hatte einen langen Weg hinter sich, vom Strafgefangenen und Renegaten zum General der Sicherheitskräfte. Heute hatten sie ein paar aus der alten Führung abserviert, die rebellischen, deren Gesichter in der Öffentlichkeit bekannt waren und in deren Augen man ihre Abneigung Mama gegenüber hatte sehen können – auch wenn sie lächelten, als sie ohne Zeremonie abgesetzt worden waren; ein passendes Ende! Und immer noch wurden weitere Schwule zusammengetrieben. Wie viele gab es denn noch?
Er faßte in seine Schublade und holte eine Flasche Kognak hervor, eine Marke, die im Land nicht mehr zu kriegen war. Alles war für den Export bestimmt, um an Devisen zu kommen. Das hatten sie diesem Lande angetan! Ein Soldat stolperte durch die Tür. Einer von Kid Freedoms seltenen Momenten köstlicher Einsamkeit wurde roh beendet. „General, Mama ist da, ich meine die Präsidentin.“
Mama stand in der Tür, ihr von den Fesseln des berühmten Kopftuchs befreites Haar stand wild in die Höhe, ein glänzendes Tuch bedeckte ihren fast nackten Körper. Sie hatte das verschlafene Aussehen eines unschuldigen Kindes. Niemand durfte sie so sehen. Der Soldat war schon wieder in das Gewirr des Kommandoraums zurückgetreten. „Finde ihn!“ „Wen?“ „Ingolovane. Finde ihn.“ Kid Freedom sah zum ersten Mal, daß ihre Augen geschlossen waren, daß sie sich mit der Antenne einer ausgestreckten Hand durch die Dunkelheit hinter ihren Lidern steuerte, als sie auf dem Absatz kehrtmachte und ihn der kalten Nüchternheit seines Büros überließ. Überall im Lande wurden die Sicherheitsstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt.
„Findet ihn!“ befahl Kid Freedom. „Findet Siphiso Ingolovane.“ „Das macht doch keinen Sinn, General“, protestierte ein Offizier. „Ingolovane – das ist doch nicht einmal ein Name.“ „Mama hat ihn gespürt, es gibt ihn. Findet ihn, oder es wird in diesem Lande keinen Frieden geben“, antwortete Kid Freedom gereizt. Sie begannen die Suche in den Bergwerken, unter den Bergleuten, die in ihren Lagern schliefen, denn Ingolovane, hatten sie gehört, bedeutete Goldträger. Und sie folgten seiner Spur zu seiner Familie in den Dörfern, wo er sich verstecken konnte, denn diese Erzträger waren ein verschwiegener Haufen, die den Unterschied zwischen Recht und Unrecht schnell vergaßen und nur untereinander loyal waren. Eine Geheimquelle sagte, er sei vielleicht schwul – mit so einem Namen – oder ein Schauspieler oder ein Schriftsteller. Das Netz wurde weiter ausgeworfen, bis die Gefängnisse zu voll waren und die Internierten freigelassen wurden, weil die Wachen nicht mehr mitkamen und die Städte von verdunkelten Fenstern und heruntergelassenen Rolläden übersät waren. Bis die Soldaten vom Mangel an Schlaf überreizt waren und in den Straßen auf Schatten schossen.
Ingolovanes Name war auf Zulu und Sotho gleich, obwohl niemand wußte, ob Siphiso der Name war, den sein Vater ihm gegeben hatte. Mamas Zulu-Verbündeter leugnete jedenfalls, daß der Mann seinem Stamm angehörte. Informanten berichteten, sie hätten ihn in verschiedenen Verkleidungen an einem Dutzend Orten zugleich gesehen. Er war ein Ganja rauchender Jugendlicher mit Rasta-Locken, ein Geschäftsmann mit Anzugtaschen voller Schmuggeldollars, eine als Mann verkleidete Nutte, ein Geist der Finsternis, der geächtete Knochen warf, um die Zukunft zu deuten. Niemand, so schien es, hatte ihm je in die Augen gesehen und gesagt, er habe gar keine Augen, sondern nur tiefe Höhlungen im Schädel.
Als sie ihre Fernsehapparate einschalteten, nicht um die Serie „Loving“ zu sehen – Mama, Gott segne sie, hatte sie wieder ins Programm gebracht –, sondern um die neuesten Nachrichten über den Rebellen und Mörder Siphiso Ingolvane zu hören, den Sohn einer Hillbrow-Hure4 und eines betrunkenen Wanderarbeiters, sahen sie Mamas Gesicht, nicht mehr warm und lächelnd und mütterlich wie ihre eigenen Gesichter; ihre von langem Leiden erzwungene Ruhe war einer düsteren Wut gewichen während andere sprachen, vor allem dieser junge Mann mit dem seltsamen Namen, Kid Freedom. Welche Mutter würde ihrem Sohn so einen Namen geben? Dem kann man doch nicht trauen.
Als Mama bekanntgab, sie hätten diesen Herrn Ingolovane gefangen und erschießen müssen, tollwütiger Hund, der er war, und seine Knochen verbrannt, damit die guten Leute keine vergiftete Luft atmen müßten, lachten alle. Aus sicherer Quelle hatten sie erfahren, daß Mama selbst ihn versteckte, überwältigt von seiner Schönheit; daß sie ihn ganz für sich allein haben wollte. Daß es böses Blut gegeben hatte zwischen Mama und Kid Freedom; daß die Scharlatan-Könige und verbitterten Politiker in ihre Bergverstecke zurückgekehrt waren; daß Mama tausend neue Perücken importiert hatte.
Irgendwo in einer Straße der Stadt saß ein Mann unter einem farbigen Sonnensegel. Nein, sagte er, er sei nicht Ingolovane, von den Toten zurückgekehrt. Er wollte einen Kaffee, mit Milch, ohne Zucker. Diese Seifenopern hingen ihm zum Hals heraus. Hollywood-Mist.
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