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Gravuren können nicht schwimmen

Ein Stausee soll in Portugal die größte Ansammlung von Steinzeitkunst unter freiem Himmel überschwemmen / Die Regierung wollte den Fund verschweigen / Bald Besichtigung mit Mini-U-Booten?  ■ Vom Rio Côa Theo Pischke

Die Landschaft ist wie Poesie. Graugrüne Hügel voller Mandel- und Olivenbäume. Dazu Weinberge. Und unten der Fluß, der dem Tal seinen Namen gegeben hat: der Rio Côa. Auf den ersten Blick nur wenige menschliche Spuren: die Reste einer romanischen Straße, ein paar verlassene, einst weiß gestrichene Taubenschläge, zwei verfallene Wassermühlen. Doch es gibt hier noch viel ältere Spuren menschlicher Kultur: 20.000 Jahre alte Gravuren, die die Menschen damals in Felsen und Schiefer geritzt haben – um Naturtreue bemühte Abbildungen von Pferden, Kühen, Bisons, Ziegen. Im November 1992 hat der Archäologe Nelson Rebanda diese steinzeitlichen Kunstwerke im Tal des Flusses Côa im portugiesischen Distrikt Gurada entdeckt – und diese Entdeckung für sich behalten.

Im Auftrag der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft Electricidade de Portugal (EDP) untersuchte Rebanda das Tal nach Überresten aus der Steinzeit. Denn die EDP ist dabei, dort einen Stausee zu errichten, und das Tal mit seinen Bäumen, Weinstöcken, Wiesen und den Gravuren soll im Wasser versinken. Bereits 1983, beim Bau der knapp fünfzehn Kilometer entferten Pocinho-Talsperre, waren so zahlreiche Steinzeitgravuren für immer verloren gegangen. Lediglich von einigen waren damals Kopien angefertigt und in ein Museum gebracht worden. Im Côa-Tal ist ähnliches geplant. Und als Rebanda, der beim staatlichen portugiesischen Institut für Architektur- und Kulturerbe (Ippar) angestellt ist, merkte, daß im Côa-Tal Hunderte von Steinzeitgravuren erhalten sind, erlegten ihm seine Auftraggeber Stillschweigen auf, um keine Proteste gegen die geplante Talsperre zu provozieren. Erst zwei Jahre später, im November 1994, weihte er eine Kollegin ein: die Lissaboner Archäologin Mila Simôes de Abreu. Sie sollte Zeugin sein für die Authentizität der Gravuren, über die Rebanda ein Buch schreiben wollte, sobald sie unter Wasser stehen. Doch Abreu spielte dieses Spiel nicht mit und alarmierte die Öffentlichkeit.

Seitdem sind immer neue Gravuren entdeckt worden. Archäologen aus ganz Europa sprechen von der weltweit größten Ansammlung von steinzeitlichen Gravuren unter freiem Himmel. Der Zugang zu den Überresten der Steinzeit ist schwierig. Bis zum Dorf Panascosa gibt es noch eine asphaltierte Straße. Dann wird der Weg steinig. José Inteiros 23 Jahre altes Taxi rumpelt über den Schotter bergab, dem Flußtal zu. Hinter einer Kurve lädt er einen einsamen Fußgänger ein, ins Auto zu steigen. Ein Geruch nach Tierherde, Fell und Wiese verbreitet sich im Wagen: Ein Schäfer fährt ein Stück mit. Bei seiner von Hunden bewachten Herde steigt er aus. Dann geht es mit dem Auto weiter entlang den Auen des Rio Côa und den letzten Kilometer zu Fuß.

Die Begeisterung der Archäologen beim Anblick der Gravuren ist so einhellig wie ihre Forderung nach einem sofortigen Stopp des Talsperrenbaus. Der italienische Archäologe Emmanuel Anati, der in den italienischen Alpen die archäologische Forschungsstation Camonica leitet, bezeichnet die Gravuren von Côa als „einzigartig“. Sein britischer Kollege Paul Bahn sagt, sie seien von „äußerster Wichtigkeit, nicht nur wegen ihres Alters, sondern vor allem, weil kaum steinzeitliche Kunst außerhalb von Höhlen erhalten ist“. Laut Bahn gibt es in Europa 280 Höhlen mit Gravuren und Zeichnungen aus verschiedenen Perioden der Steinzeit, jedoch nur sechs Orte mit steinzeitlichen Kunstwerken unter freiem Himmel.

Am Rio Côa gibt es die meisten. Auf rund 13 Kilometern entlang des Flusses finden sich Gravuren. Fast immer sind es Tierfiguren, manche mannshoch. Quarzit und Kiesel waren die Werkzeuge, mit denen die Figuren in den Fels geritzt worden sind. Für ihre Existenz gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten steinzeitlichen Kunstwerke entdeckt wurden, verbanden die Archäologen damit die Idee von der „Kunst als Selbstzweck“, so Vitor Oliveira Jorge, Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Porto. Später sei die Theorie von der „magischen Kunst“ entstanden. Demnach fixierten die Steinzeitmenschen die Tiere, die sie jagten, auf Felsen, weil sie glaubten, so mehr Erfolg bei der Jagd zu haben. In den sechziger Jahren gewann die Theorie an Gewicht, wonach es sich bei den Gravuren um Zeugnisse eines mystischen Kultes der Menschen vor 20.000 Jahren handelte. Doch eine sichere Begründung für die Gravuren gibt es nicht. „Auch deshalb ist ihre genaue Erforschung wichtig“, sagt die Archäologin Abreu.

Doch dafür soll es nach dem Willen der Regierung keine Zeit mehr geben. Industrie- und Energieminister Mira Amaral hält am Bau der Talsperre fest. Etwa 400 Arbeiter schaffen am Staudamm. 150 Millionen Mark sind schon verbaut. Die Regierung sieht kein Zurück mehr. In drei Jahren soll der Bau fertig sein. Selbst der Appell von Staatspräsident Mario Soares, die Bauarbeiten wenigstens zeitweise auszusetzen, verklang ungehört. Auch die Unesco empfahl die „vorübergehende Einstellung der Bauarbeiten“, um Zeit für eine genaue Erforschung der Gravuren zu gewinnen. Die endgültige Entscheidung, so die Unesco, sei jedoch Sache der portugiesischen Regierung. Und die läßt zwar noch einmal eine Archäologenkommission im Tal herumforschen, hat aber keinerlei Einlenken signalisiert.

Der französische Archäologe Jean Clottes, der die Gravuren im Auftrag der Unesco besichtigte, sprach sich zunächst für die Überflutung der Gravuren aus – um sie vor Vandalismus zu „schützen“. Eine Ansicht, die Clottes später widerrief. Denn die Überflutung birgt das Risiko der Zerstörung in sich – durch Wasserdruck und einen möglichen Säuregehalt des Wassers. Doch die Regierung ist sehr angetan von Clottes' Idee. „Die Gravuren sind von nationalem Interesse, die Talsperre ist von nationalem Interesse. Und ich bin sicher, daß sich beides miteinander vereinbaren läßt“, sagt der zuständige Unterstaatssekretär im Kulturministerium, Manuel Frexes.

Die EDP hat bereits einen Plan ausgearbeitet: Sie will Stausee und Steinzeitkunst miteinander „versöhnen“. Die massiven Felsen mit Gravuren sollen außerhalb der Reichweite des Wasser in einem „Steinzeitpark“ ausgestellt werden. Von den Gravuren in Schiefer – das sind mehr als zwei Drittel der bisher entdeckten – sollen Nachbildungen angefertigt werden, denn die Schieferplatten können nicht entfernt werden, ohne das Risiko einzugehen, die Gravuren dabei zu zerstören.

Durch eine spezielle Versiegelung sollen sie wasserdicht gemacht und so unterhalb der Talsperrenoberfläche „erhalten“ werden. Mit Hilfe von Mini-U-Booten, sogenannten Remote Operated Vehicles, sollen sie ständig überwacht werden können. Einschließlich des Flintstone-Parks für Touristen soll das gesamte steinzeitliche Unternehmen rund 100 Millionen Mark kosten. Bezahlen sollen es die Stromverbraucher über einen Zuschlag auf die Stromrechnung.

Das von EDP angepeilte „Versöhnungswerk“ hält Mila Simôes de Abreu jedoch für absurd. „Den Plan können wir nicht akzeptieren“, sagt sie. „Wer die Gravuren unter Wasser setzt, erhält sie nicht, sondern zerstört sie.“ Zusammen mit ihren Archäologenkollegen hat sie eine breite Protestbewegung gegen die Talsperre angestoßen. In den Zeitungen erscheinen Leitartikel pro und contra. Tausend Schüler campierten in den Osterferien in Vila Nova de Foz Côa und demonstrierten gegen den Staudammbau. Ihr Motto: „As gravuras nÛo sabem nadar“ – Die Gravuren können nicht schwimmen. Und vor dem berühmten Hieronymitenkloster im Lissaboner Stadtteil Belém haben Archäologen am portugiesischen Nationalfeiertag ein „symbolisches Fasten“ begonnen. „Die Gravuren von Côa gehören nicht zum Erbe Portugals, sondern zum Erbe der gesamten Menschheit – genau wie dieses Kloster“, sagt Abreu. „In uns allen liegt der Wunsch zu erfahren, woher wir kommen, welche Vorfahren wir haben, wer unsere Großeltern sind“, meint die Archäologin. „Die Gravuren sind das Werk der Großeltern der Menschheit.“

Insgesamt haben sich bis dato mehr als 70.000 Menschen mit ihrer Unterschrift gegen den Talsperrenbau protestiert. Die EDP hält ihn für wichtig, um die Energieversorgung Portugals zu sichern. Für die Versorgung mit Wasser sei die 700 Millionen Kubikmeter fassende Talsperre dagegen eher zweitrangig. Bevor die EDP vom Industrie- und Energieministerium grünes Licht für das Projekt bekam, waren die Pläne der Elektrizitätswerke mehrmals verworfen worden, zuletzt 1991. Der damals zuständige Staatssekretär im Ministerium, Nuno Ribeiro da Silva, lehnte eine Talsperre am Rio Côa ab. Er hält auch heute noch ihre Rentabilitätsrate für „äußerst niedrig“.

Dafür seien die Schäden für den Weinbau umso höher: Im Tal des Rio Côa wächst Portwein allererster Qualität. Auch hält Silva das Argument einer drohenden Lücke bei der Energieversorgung für schwach: „Wie kann EDP von Einbrüchen bei der Energieversorgung sprechen, wenn unsere Energieexporte im vergangenen Jahr um 60 Prozent gestiegen sind?“ Der geschaßte Staatssekretär sieht die Entscheidung für die Talsperre als Werk von Lobbyisten im Energieministerium: „Der Minister war zuvor Angestellter der EDP, ebenso wie der zuständige Staatssekretär und der Direktor des Nationalen Energieplans.“

Vila Nova de Foz Côa ist seit dem Baubeginn des Staudamms größer geworden. Am Ortsrand ist ein kleines Containerdorf entstanden. Dort wohnen die Bauarbeiter. Sie wehren sich entschieden gegen einen Baustopp. „Wenn der Bau wegen der Gravuren scheitert, werden wir sie zerstören“, sagt einer von ihnen.

Im Ort hätten viele lieber beides: die Talsperre und die Gravuren. „Eine Talsperre zieht Touristen an und ein Steinzeitpark auch“, sagt Doña Piedade, Wirtin der Pension Cifrão. Auch die Winzergenossenschaft erlebt einen großen Aufschwung. Sie hat einige ihrer Weinsorten umbenannt: „Gravuren von Côa“, „Altsteinzeit“ und „Steinzeitkunst“ steht nun auf den Flaschenetiketten. „Wir haben Lieferschwierigkeiten“, sagt José Carlos Dias von der Winzergenossenschaft, „so zahlreich sind die Bestellungen.“

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