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Offene Ohren für den Osten!

Karl Schlögels Buch „Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens“  ■ Von Michael Bienert

Seit fünf Jahren ist unser Bild von Europa in Bewegung, verändert fast täglich seine Konturen, weckt unvorhersehbare Hoffnungen und Ängste. Das ist aufregend, aber auch anstrengend und unbequem. Sich im politischen Koordinatensystem der europäischen Nachkriegsordnung zurechtzufinden kostete sehr viel weniger Energie. Man konnte es sich leisten, ein Jahr lang keine Zeitung zu lesen, und fand sich danach immer noch in der Welt zurecht. Seit 1989 sind neue Staaten auf der Landkarte aufgetaucht, die Handels-, Verkehrs- und Informationsströme wechseln die Richtung, täglich wird blutig um Grenzen gekämpft, von denen wir nicht einmal wußten. Alte Nachbarschaften, verschollen geglaubte historische Erfahrungen greifen in die Politik und den Alltag ein. Zwar sind die Vorstellungen, Vorurteile und Sprachhülsen aus dem Kalten Krieg noch im Umlauf, aber dem Zwang, sich ein neues Bild von Europa zu machen, kann sich niemand entziehen.

Langsam begreift auch der Verstockteste, wie dumm uns die Teilung Europas gemacht hat. West- und Osteuropäer lebten bis 1989 und leben zum größten Teil noch heute in einem künstlich halbierten Horizont. Das war sogar auf den seltenen Reisen hinter den Eisernen Vorhang so. Man konnte sich kaum frei bewegen, sah und erfuhr vor allem das, was politisch erwünscht war. Damals schockierte die Andersartigkeit, heute beschämt uns der kulturelle Reichtum der jeweils anderen Seite: Wie wenig haben wir davon gewußt! Wie vertraut ist vieles und wie fremd! Mühselig eignen wir uns wieder an, was den polyglotten Europäern der Vorkriegszeit selbstverständlich war: ein Gefühl für die realen Distanzen zwischen den europäischen Metropolen, die notwendigsten Sprachbrocken, Landeskunde, die komplizierte Geschichte der Vielvölkerlandschaften Europas.

„Go East!“, so der Titel des neuen Buches von Karl Schlögel, ist daher eine beherzigenswerte, aber keinesfalls selbstverständliche Parole. Genausowenig selbstverständlich, weil von der nazistischen „Volk ohne Raum“-Ideologie korrumpiert, ist in Deutschland ein politisches Denken in räumlichen Kategorien. Nach dem Verlust der Ideologien fangen wir gerade erst an, die räumliche Dimension in Geschichte und Politik wiederzuentdecken. Um mit Konflikten wie auf dem Balkan besser umzugehen, wäre aber viel mehr vonnöten: Schlögel fordert eine „Geopolitik der Zivilgesellschaft“, die um die Bedeutung kultureller Räume für die Vergesellschaftung von Menschen weiß und entsprechend sensibel damit umgehen kann.

Das ist keine Vision, sondern etwas Notwendiges, das erarbeitet werden muß. Und zwar vor Ort, auf Reisen. Es reicht nicht, betont Schlögel immer wieder, mit unseren vertrauten, ideologisch vorgeprägten Begriffen zu hantieren. Es geht um die Aneignung einer Dimension von Geschichte und Gegenwart, die unsere bisherige Vorstellungswelt sprengt: „Die Leute im Osten brauchen nicht unsere Begriffe, sondern unser Gehör.“

Die derzeitige Lebenswirklichkeit der Menschen in Osteuropa ist alles andere als eine krisenhafte Vorstufe zur westlichen Lebensform. Der Osten hinkt dem Westen nicht einfach hinterher, er ist ihm in vielem voraus. Auch den westlichen Gesellschaften steht früher oder später eine Transformationskrise ins Haus, bei der es darum gehen wird, auf dem schmalen Grat zwischen einem „nicht mehr“ und einem „noch nicht“ zu balancieren, ohne abzustürzen. Wie Millionen von Menschen in Osteuropa dies meistern, ist für Schlögel das eigentliche Wunder. Leider interessieren sich die westlichen Medien nicht besonders für diese „stille Revolution“. Sie sind auf die Kriegsschauplätze fixiert. Doch erstaunlich ist weniger, daß es zu vereinzelten Gewaltausbrüchen kommt, als vielmehr die Tatsache, daß die Umwälzung im allgemeinen unblutig vonstatten geht. „Umgangssicherheit und Gelassenheit selbst dann, wenn die Situation aussichtslos erschien – und sie war es mehr als einmal –, sind das wichtigste Kapital der osteuropäischen Gesellschaften.“

Wie unbeweglich wirkt dagegen die Bundesrepublik! Wie wenig ist die Bevölkerung, wie wenig selbst die Opposition auf den Zeitpunkt vorbereitet, an dem sich die Finanzlöcher nicht mehr durch Schuldenmachen stopfen lassen, das soziale Netz reißt und vieles, was heute noch selbstverständlich funktioniert, einfach nicht mehr geht.

Die im Krieg verwüsteten Städte im Osten erzählen, welches Zerstörungspotential zur Explosion gelangen kann, wenn die scheinbare Stabilität einer blühenden bürgerlichen Welt zusammenbricht. Ihren heutigen Bewohnern jedoch fehlt die Zeit, sich wie deutsche Heimwehtouristen in Königsberg auf das Verschwundene zu konzentrieren. Sie warten auf Partner, die beim Überleben helfen. In Schlögels Städtebildern zeigen die osteuropäischen Metropolen ihr doppeltes Gesicht: Sie haben meist eine große Vergangenheit, sie sind Mahnmale der Zerstörung, aber sie sind zugleich voller Überlebenswillen, Aufbruch, Zukunft.

Schlögel ist ein glänzender Physiognom der Städte. Am Alltäglichen, Flüchtigen, scheinbar Nebensächlichen liest er die sozialen Prozesse ab, für die die Begriffe noch fehlen. Sein Moskau sieht anders aus als das der politischen Berichterstattung. Der Kreml verblaßt neben den Hunderttausenden, die im Lenin-Stadion Handel treiben. Schlögel berichtet von einer Stadt, die mit unglaublicher Energie ihren Alltag bewältigt, die sich auf der Basis der Geldökonomie völlig neu vergesellschaftet.

Der Verlust der politischen Kontrolle Moskaus über das weite Land setzt hier wie dort neue Kräfte frei. Rußland zerfällt in Zonen, die auf ganz unterschiedliche Weise versuchen zu überleben. Diese Vielfältigkeit und die schier unerschöpflichen Reserven an Intelligenz, Phantasie und Nervenstärke haben das Land bisher vor dem Kollaps bewahrt.

Daß Rußland von Amerika träumt, wenn es sich neu entwirft, ist nichts Neues. Das Eindringen westlicher Konsumgüter, westlichen Lebensstils und westlicher Investoren in den Osten bedeutet für Schlögel aber noch lange keine Kolonisierung. Zur Zeit leistet der Ost-West-Handel das, was die Politik noch kaum als Aufgabe begriffen hat: Um ihn zu betreiben, müssen die Akteure sich sehr genau mit den tatsächlichen Gegebenheiten und mit den Mentalitäten ihrer Geschäftspartner auseinandersetzen. In ihren Köpfen wird intensiver als anderswo an der neuen Karte Europas gearbeitet. Einer Karte, die sich weniger an politischen Grenzen als an den alten Handelswegen orientiert. Ein Gewirr von Verbindungslinien, deren wichtigste schon vergessen waren und die sich nun als dauerhafter erweisen als die Gewaltakte der großen Politik: Berlin–Moskau, Moskau–Istanbul, Wien– Bukarest, Riga–Stockholm...

Mögen die Bewohner der alten Bundesrepublik die „Verostung“ weiterhin fürchten wie der Teufel das Weihwasser – sie kommt sowieso, hat längst angefangen. Die Mitarbeit an der Zukunft des Ostens ist, so Schlögel, „eine Chance, die uns gewährt wird. Die Flucht nach Westen ist zu Ende. Wir sind im Westen angekommen. Go East ist nichts weiter als die nachholende Bewegung in die andere Richtung. Ihr Resultat wäre die Herstellung von Normalität. Für ein Land, das daran bisher gescheitert ist, wäre das nicht wenig.“

Karl Schlögel: „Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens“, Siedler-Verlag, Berlin 1995, 216 Seiten, gebunden, 38 DM

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