: Der „Ort der Mutter“
■ Was können wir mit Frauenliteratur anfangen? Das Buch „Papierne Mädchen – dichtende Frauen“ dokumentiert die italienisch-deutsche Diskussion
„Doch ich wollte nun einmal ein papiernes Mädchen erziehen, weil ich meine eignen nicht mehr hatte, und da half mir meine Einbildungskraft aus der Verlegenheit und schuf den Plan zu Sophiens Geschichte“, schrieb Sophie von La Roche vor rund 200 Jahren in einem Brief über die Entstehung ihres „weiblichen Bildungsromans“, der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“. Der „Zwang der Umstände“ habe die Trennung von ihren beiden Töchtern herbeigeführt, über die sie den „größten Unmuth“ empfand – sie wurden in einem Konvent in Straßburg erzogen.
So hatte also auch sie, die Großmutter Bettines, es nicht geschafft, im wirklichen Leben ein „Lernen in der weiblichen Genealogie“ durchzusetzen. Die „Einbildungskraft“ half ihr über die Niederlage, und da sie die Erziehung ihrer eigenen Töchter anderen überlassen mußte, packte sie ihr mütterliches Wissen in ein Buch und entwarf auf dem Papier die Utopie eines weiblichen Bildungszusammenhangs. In dieser Utopie wird nicht einfach die Forderung nach Gleichheit und Freiheit ausgeweitet auf Frauen, die damit die gleichen Chancen zu einer scheinbar allgemeinmenschlichen Bildung erhalten. Dann müßte von ihrem Roman heute, ein paar Revolutionen und Reformen später, nicht mehr die Rede sein. Vielmehr skizziert sie eine pädagogische Situation, in der eine ältere Frau einer jüngeren ein Wissen von der Welt vermittelt, in das ihre eigenen Erfahrungen als weibliches Wesen eingegangen sind. Diese Bildung meint also nicht das Weitergeben abstrakter Inhalte als vielmehr eine „Erziehung der Gefühle“, die es der jüngeren Frau ermöglicht, zu einem eigenen Verständnis der Realität zu gelangen, ihren eigenen Standort zu finden.
Und das ist auch nach 200 Jahren noch Utopie – eine Utopie, die in der Beziehung zwischen Autorin und Leserin jedoch bereits ein Stück weit verwirklicht ist. Um diese Beziehung geht es in dem Buch über „papierne Mädchen“ und „dichtende Mütter“. „Denn wir denken über unsere Mütter zurück, wenn wir Frauen sind“, schrieb bereits Virginia Woolf. Ein unbehaglicher Gedanke angesichts der konkreten Mutter-Tochter-Beziehungen in einer Gesellschaft, in der, wie Luisa Muraro in ihrem Buch „Die symbolische Ordnung der Mutter“ schreibt, Mädchen immer noch lernen, ihre Mütter zu hassen. Vielleicht ist die Erfahrung mit der Schwäche der Mütter im Patriarchat hiesiger Prägung der Grund, weshalb wir uns so schwer tun mit der Rezeption der von der Psychoanalyse herkommenden Theorieansätze der Italienerinnen.
Ich muß gestehen, daß mich beim Lesen Neid beschlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Autorinnen, auf dem Boden der Theorien von Luisa Muraro und Luce Irigaray, vom „Ort der Mutter“ sprechen können, wo weibliches Selbst- und Weltbewußtsein sich entfalten könne. Meine Erfahrung mit Müttern, gerade auch den Müttern in der deutschen Frauenbewegung, läßt mich diesen Ort eher als einen der Niederlagen und Schwäche assoziieren. Aber in diesem Neid steckt auch die Sehnsucht nach einer solchen Heimat.
Das Buch ist Ergebnis einer Tagung zum Thema „Wie lesen wir große Autorinnen? Vom Wagnis, Vergangenheit und Gegenwart von Frauen miteinander in Beziehung zu setzen“. Die Autorinnen sind Literaturwissenschaftlerinnen, die in ihrem Bemühen um Interpretationskriterien, die Frauen als Autorinnen und Leserinnen gerecht würden, sich in die Tradition der Diskussion der „Libreria delle Donne di Milano“ und der Philosophinnengruppe Diotima stellen. Insofern ist es nur folgerichtig, daß sie ihre Genealogie begründen mit dem Abdruck des „gelben Katalogs“, der die jahrelangen Diskussionen der Mailänderinnen über Literatur von Frauen zusammenfaßt. In der Auseinandersetzung über Schrifstellerinnen wurden Begriffe ausprobiert und wieder fallengelassen, Worte gesucht, die letztlich dem eigenen In-der-Welt- Sein einen Sinn verleihen würden, und dabei kam den Frauen vorübergehend sogar die Gewißheit abhanden, überhaupt eine gemeinsame Sprache zu sprechen.
Ich lese die Protokolle ihrer Diskussionen mit Bewunderung dafür, daß sie es geschafft haben, eine Kontinuität in der Diskussion aufrechtzuerhalten, und für die Stärke, Frustrationen auszuhalten, wie sie aus folgendem Satz spricht, in dem die Diskussion über die Autorinnen erkannt wird als „eine Auseinandersetzung über etwas, das wir noch nicht benennen können, was aber sicher wichtiger ist als eine Interpretation der Autorin. Ich bin daran interessiert weiterzumachen, um diese Sache benennen zu können.“
Nach der ungestümen Subjektivität auf den hundert gelben Seiten klingen die Stimmen der Autorinnen der folgenden fünf Beiträge ungleich mäßigender. Sie schreiben rund zehn Jahre später und verfügen über eine Begrifflichkeit, in die die Suche nach weiblichem Selbstausdruck gemündet ist. Diese Begrifflichkeit bieten sie uns an als Zugang zu weiteren „großen Autorinnen“: neben Sophie von La Roche auch Else Lasker-Schüler und Marina Zwetajewa. Aber auch zu Rahel Varnhagen und zu Charlotte Birch-Pfeiffer, der von der Literaturwissenschaft der „ästhetische Rang“ abgesprochen wurde, deren Liebesgeschichten aber, von weiblichen Wertvorstellungen her betrachtet, ihre Trivialität verlieren und zum Schauplatz des Widerstandes gegen die väterliche Ordnung werden.
Über einen neuen Blick auf die porträtierten Schriftstellerinnen hinaus aber vermitteln mir meine selbstgewählten „Mütter“ Tugenden, die sie selbst als Maßstäbe für ihre Arbeit gewonnen haben: Realismus, der die Berücksichtigung des eigenen Standortes meint, die Anerkennung der eigenen Partialität, die die Existenz des anderen dankbar als Erweiterung begrüßen kann, Interesse an der Eigenart anderer, Aushalten von manchmal in die Irre führenden Prozessen, Aufmerksamkeit, das Erkennen von Produktivem im Mangelhaften, die Anerkennung von weiblichen Autoritäten und ein freier Umgang mit wertesetzenden Instanzen.
Das sind die eigentlichen Früchte meines Selbstversuchs. Indem ich dies schreibe, verlasse ich die Tochterrolle, um andere Frauen einzuladen, sich trotz der manchmal fremd anmutenden Begrifflichkeit auf eine Beziehung mit den dichtenden Müttern und papiernen Mädchen einzulassen. Claudia Breuschoft
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