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Ein Kung-Fu-Trainer an der Universität der Armen

■ Theater im Sinne Mao Tse-tungs: Frankreichs Regisseur Armand Gatti spielt mit Arbeitslosen philosophische Stücke

Ausgeschlossen ist nur eines: das Wort „ausgeschlossen“. Überall an den weiß gekalkten Wänden des Eisenbahndepots hängen Zettel aus. Neue Arbeitstitel, wechselnde Stundenpläne für Probenzeiten oder Zusammenkünfte anderer Art, Mitteilungen, wer wann wo welche Berechtigungskarte (Essen, medizinische Versorgung etc.) erhalten kann. Der Besucher erhält den Eindruck einer großen Firma mit diversen Abteilungen, weniger einer Großfamilie oder gar eines aus der Not geborenen Kollektivs. An der Treppe zum Büro hängt ein Blatt mit nur einem Satz darauf: „Das Wort ,ausgeschlossen‘ ist für das ganze Projekt gestrichen.“

Der französische Theaterregisseur Armand Gatti nennt sie liebevoll seine „Loulous“: seine Streuner. Das mögen die Loulous gar nicht gerne hören. „Wie soll man sich anschließend bewerben“, empört sich Francine, „wenn wir alle als Drogenabhängige, Kriminelle oder Alkoholiker abgestempelt werden?“ Die französische Presse hat sich da schon einigermaßen sensationsgierig gezeigt. Francine ist naturgemäß – oder soll ich sagen, schicksalsbedingt – mißtrauisch. Ursprünglich waren es achtzig arbeitslose Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 42 Jahren, die an diesem ungewöhnlichen Projekt teilnehmen durften – dreiundsechzig sind übriggeblieben. Sie erhalten über ein Jahr lang – neun Monate sind der Theaterarbeit reserviert – eine Entlohnung, die, je nach individueller Situation, zwischen 2.000 und 4.000 Francs (600 bis 1.200 Mark) schwankt. Keine übliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern Arbeit, harte Arbeit: an sich.

Da ist zunächst das dreistündige Kung-Fu-Training, das sie jeden Morgen absolvieren mußten. Nicht wenige Projektteilnehmer befanden sich in einer schlechten körperlichen Verfassung. Während der gesamten Zeit war ein Arzt anwesend, Impfungen (Hepatits B) und Therapieangebote (Drogen, Alkohol) mußten organisiert werden. Viele Kursteilnehmer hätten außerdem soziale Probleme gehabt, die zu Anfang im Vordergrund standen, erzählt Marie-Anne Hitter von der „Laiterie“ in Straßburg: keine oder eine zu teure Wohnung, Schulden, familiärer Bruch, Arbeitslosigkeit mit oder ohne Ausbildung. Die „Laiterie“ fungiert als Arbeitgeber für Armand Gatti und seine Projektteilnehmer.

Viele Kursteilnehmer konnten nicht lesen und schreiben: „Die ersten Sitzungen über haben wir uns parallel in zwei Kursen – nämlich arabisch und französisch – dem Lesen- und Schreibenlernen gewidmet“, meint Armand Gatti und führt den Begriff „Universität der Armen“ an.

Erstaunlich, wie selbstverständlich seine in schwarze Kimonos gekleideten Schüler nach neun Monaten Arbeit an ihrem körperlichen und sprachlichen Ausdrucksvermögen mit dem Text des Stücks umgehen. Die aktuelle Textfassung liegt zwar am letzten Probentag und auch während der Aufführung meist griffbereit, und hin und wieder muß jemand soufflieren, aber auch das geschieht mit größter Selbstverständlichkeit. Der größte Teil des überaus komplizierten und abstrakten Textes wird von den Darstellern auswendig vorgetragen.

Heisenberg und Gödel für Analphabeten

Was für ein Text! Was für ein Thema! „Kepler, le langage nécessaire“ („Kepler: der erforderliche Diskurs“) ist das ganze Theaterprojekt überschrieben. Doch der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler (1571 bis 1630) diente nur als Ausgangspunkt einer philosophisch-theatralischen Recherche, die bei Werner Heisenberg, dem Begründer der Quantentheorie, endet, und bei Gödels Satz. Eine kleine Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit, geschrieben von vormaligen Analphabeten aus Straßburg. Armand Gatti erklärt die Vorgehensweise: „Es ging uns nicht darum, Kepler als Figur auf die Bühne zu bringen. Unsere Recherche hat sich auf einer ganz anderen Ebene abgespielt. Kepler ist der Urheber einer Revolution, die heute noch zählt. Eine Revolution, die den Kreis zur Ellipse erklärt hat. Wir haben das den ,erforderlichen Diskurs‘ genannt, weil er auf ganz lebhafte Weise stattfand, in einer barocken Form. Kepler konnte sich bei einer Demonstration vom Abenteuer mitreißen lassen, er erzählte von seinen Irrtümern, numerierte sie sogar einen nach dem anderen. Man muß auch um die Verachtung wissen, die ihm seinesgleichen, die Wissenschaftler, entgegengebracht hatten. Nur weil er manchmal mehr Phantasie hatte. Und weil er von einem Fachgebiet zum nächsten springen konnte. Wenn er etwas mit Hilfe der Mathematik nicht lösen konnte, versuchte er es auf dem Weg über die Archäologie; wenn das nicht klappte, versuchte er es mit Platon. Sein Diskurs schien uns verteidigungswert. Er ist fähig, die wissenschaftlichen Probleme zuzulassen, denn trotz allem bleibt uns nach dem Scheitern des magischen Denkens, der Theologie, der Philosophie, nur die Sprache der Wissenschaft, die heute für den Menschen Antworten bereit hält.“

Gatti, ein kleiner attraktiver Mann, der, wie es sich für einen unverbesserlichen Anarchisten gehört, stets schwarz gekleidet herumläuft, ist unglaublich belesen. Aber er hat auch lesen lassen. Vorlesen lassen – da ist sie wieder, seine „Universität der Armen“. Voraussetzung dafür, daß die überwiegend jungen Leute sein philosophisch-ästhetisches Konzept verstehen und schließlich sein Stück überhaupt sprechen und präsentieren können, ist, daß sie verstehen, wovon geredet wird. Also lud der bekannte Theatermann renommierte Naturwissenschaftler aus Straßburg und Paris ein, sich den Fragen der Gruppe aus einstigen Analphabeten, Arbeitslosen und Schauspielern auf Zeit zu stellen. Und sie kamen.

Die Projektteilnehmer haben in Arbeitsgruppen, sogenannten „Ateliers“, gearbeitet: Da gab es eine Gruppe, die sich mit Kepler, eine andere, die sich mit Galileo Galilei, wieder eine andere mit Giordano Bruno befaßt hat. Häretiker, die einen anderen Diskurs als den des Gesetzes – des Staats, der Kirche, der Macht – gepflegt haben. Gatti geht es um Sprache: die deterministische Sprache wider das Möglichkeitsdenken, die Sprache des Gesetzes wider die prophetische Sprache, die technologische Sprache wider die – Poesie. Den vom Herrschaftsdiskurs Ausgeschlossenen der heutigen Gesellschaft, seinen „Loulous“, will er wieder Sprache verleihen: Wie könnte man besser lernen, sich verständlich oder deutlich vernehmbar zu machen denn als Schauspieler? Wie könnte man besser das Sprechen lernen denn als Wort- Träger? Hier liegt der Kernpunkt von Gattis politischem und ästhetischem Credo: Er läßt seine Akteure nicht Personen, sondern Worte spielen.

„Ich bin das G von Galilei“, sagt eine schwarzgekleidete Akteurin, springt vor und beschreibt mit Beinen und Armen eine Bewegungsabfolge in der Luft. „Ich bin das A von Galilei“, sagt der nächste. Auch er macht ein paar Kung-Fu- Bewegungen. Die Wort-Spieler zelebrieren den Namen des Astronomen mit ihrem Körper, später werfen sie sich wort- oder satzweise Hypothesen zu, erläutern, widerlegen. Ein philosophisches Spiel. Sie spielen die Person von Johannes Kepler, sie spielen mathematische Axiome und Paradoxe, daß dem mathematisch nicht vorgebildeten Zuschauer Hören und Sehen vergeht. „Ich glaube schon“, meint Isabelle, eine der Teilnehmerinnen, die bereits ein Anschlußpraktikum und wahrscheinlich sogar eine Stelle in Aussicht hat, „daß viele Zuschauer nicht alles verstehen werden.“ Hauptsache, sie versteht es.

Drei Tage lang rollt in dem Eisenbahndepot der SNCF – man mußte wegen Bauarbeiten aus der Laiterie dorthin ausweichen – ein einmaliges Aufführungsmarathon ab. Rund hundert Leute, Freunde und Familienmitglieder, sind eingeladen – sie bezahlen nur das Essen während der Aufführung. (Ursprünglich war vorgesehen, an verschiedenen öffentlichen Plätzen in Straßburg zu spielen, doch hat dafür das Geld trotz der kommunalen Unterstützung nicht ausgereicht.) Gatti schafft es, mit kleinen Reden Übergänge zu bauen. Gatti, der Conférencier. „Das Kung-Fu ist die Grammatik des Körpers“, erklärt er und führt die Zuschauer zurück ins alte China, wo er die Geburt der Schrift und des Kung-Fu aus dem Geist, aus der Beobachtung erklärt. Auch die Naturwissenschaft basiert auf Beobachtung. Schon hat sich der Kreis zur philosophischen Ellipse geschlossen. Der Aufführungsmarathon – acht Stunden pro Tag – wird zur Werkstatt, zur höchst amüsanten, aufschlußreichen Volksuni umfunktioniert.

Geistige Väter nach der Résistance

Armand Gatti, der 71jährige Dramatiker und Regisseur, ist kein gewöhnlicher Theatermann. Das Theater, sagt er, sei „mausetot“. Die Idee des Zuschauers, der kommt und sieht und wieder geht, ist ihm verhaßt. Noch mehr allerdings haßt er das psychologische Theater, „da spuck ich drauf“, sagt er und nimmt dreimal kräftig Anlauf dazu. Gatti verlangt von sich wie den anderen höchsten Einsatz. Die letzten Tage wurde rund um die Uhr geprobt. Der 71jährige kommt angeblich mit zwei Stunden Schlaf aus. Und Mittagessen gehe er nur einmal in der Woche, versichert er charmant. Statt dessen erläutert er mir in der Mittagspause sein politisches und ästhetisches Konzept. Dafür holt der einstige Résistancekämpfer allerdings erst einmal weit aus: „Ich habe drei geistige Väter gehabt: Jean Vilar (der in den fünfziger Jahren das Volkstheater neu zu beleben versucht hat), dann Erwin Piscator (mit dem Gatti in den Sechzigern gearbeitet hat), und der dritte war etwas weiter weg, das war Mao Tse-tung. Während einer Diskussion, die wir eines Tages mit einem chinesischen Kollegen über das Theater hatten, meinte Mao Tse-tung zu ihm: „Antworten Sie auf die Frage: Wer richtet sich an wen? Und Ihr Stück ist schon geschrieben.“ Das hat mir sofort eingeleuchtet. Seither mache ich, auch wenn ich vielleicht der einzige bin, Theater im Sinne Mao Tse-tungs.“

Schon die Proben laufen anders. Es gibt kein vorab gefertigtes Stück, statt dessen müssen alle Teilnehmer eine Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ finden. Zunächst schreiben sie die Antwort nieder – so gut sie eben können –, anschließend wird jedes Wer-bin- ich?-Spiel mit der Videokamera festgehalten. „Das ist die Basis des ganzen Experiments. Wenn sie einmal die Frage ,Wer bin ich?‘ beantwortet haben, wenn sie wissen, wer sie sind, wenn sie mit sich reden konnten, dann kommt die kompliziertere Frage: Zu wem rede ich? Und über was rede ich?“

Gatti vergleicht seine Arbeitsweise mit der des Malers Rubens und seiner Schüler. Jeder der Schüler trägt etwas zum ganzen Bild bei. Und doch bleibt Gatti der Meister, der Dirigent, der in dem mit einer atemberaubenden Logistik ablaufenden Maschinerie – die bis ins Gefängnis von Straßburg greift, wo das Dekor und ein begleitender Katalog hergestellt worden sind – die Fäden in der Hand behält, dank einer klaren Hierarchisierung und der Hilfe seiner Assistenten, die mit den einzelnen „Ateliers“ gearbeitet haben. „Diese Arbeitslosen“, sagt Gatti, „die so einiges im Leben erlebt haben, sind auf der Suche und motiviert, sich auszudrücken, zu reden.“ Motivation ist auch das Kriterium, wonach die Projektteilnehmer durch Gattis Assistenten Gilles Durupt ausgesucht werden. Isabelle meint auf die Frage, ob die Teilnehmer des Projekts etwas besonderes mitgebracht hätten: „Energie, Hartnäckigkeit und viel Motivation.“ Gatti sagt, man sehe es ihnen förmlich an: „Ihre Augen werden wacher, leuchtender. Das verändert das Gesicht. Die Falten sind nicht mehr dieselben.“

Gattis Credo, seine Suche nach Sprache resultiert zugleich aus der Erfahrung tiefster Ohnmacht und Sprachlosigkeit. Der Résistancekämpfer wurde nach Neuengamme deportiert, wo er nach einiger Zeit fliehen konnte. Im Konzentrationslager zählte jedes einzelne Wort gegen das Schweigen, gerade weil es womöglich das Leben aufs Spiel setzte – der Kampf gegen die Sprache der Vernichtung. Sprache als Religionsersatz. „Es scheint seltsam“, sagt Gatti, „aber wenn ich ein Projekt beginne, sage ich immer: ,Am Anfang war das Wort. Und das Wort ist Gott. Wollt ihr mit mir zusammen ein Jahr lang Gott sein: gemeinschaftlich, füreinander einstehend?‘“ Sie wollten.

Die Kunst gegen den Ausschluß wenden

Die neun Monate sind um. Armand Gatti und seine engsten Mitarbeiter, die sich den Namen „La parole errante“ („Das umherziehende Wort“) gegeben haben, ziehen weiter – nach Paris, wo Gatti sein Thema im Parc de la Villette weiterverfolgen wird. „Die Tragweite des Experiments können wir noch gar nicht abschätzen“, meint Isabelle am letzten Probentag. Marie-Anne Hitter von der Laiterie will versuchen, die verbliebenen 63 Neuschauspieler moralisch aufzufangen. „Für die Monate Juli und September haben wir uns vorgenommen, mit ihnen Arbeit zu suchen“, meint sie. Ein Teil hat bereits etwas in Aussicht. Die Laiterie hat sich – mit dem Akzent auf dem Künstlerischen – der sozialen Intervention verschrieben. Jean Hurstel, der Leiter des Kulturzentrums, ist zugleich Vorsitzender der Association Banlieue d'Europe, eines europaweiten Netzwerks von Künstlern oder Künstlergruppen, die mit Randgruppen arbeiten. Ihr Motto: „L'art contre l'exclusion“ („Die Kunst gegen den Ausschluß“). Auch Armand Gatti kämpft gegen den Ausschluß – aus dem Diskurs, aus der Gesellschaft. Aber, so sagt Gilles Durupt, seit neunzehn Jahren Gattis Wegbegleiter, „wir wollen diese Menschen nicht wiedereingliedern, sondern da rausholen.“ Sabine Seifert

Banlieue d'Europe: Maison des Cultures Frontières, 21 rue de la Croix, 57600 Freyming Merlebach, Tel. 0033/ 87816924; La Laiterie, 10 rue du Hohwald, 67000 Straßburg.

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