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Nicht nur Sache der Vertriebenenverbände

■ Deutsche und Tschechen nennen in einem Sammelband historische Tabus

Bücher über die Beziehungen der Tschechen und Deutschen rufen bei den meisten Linken die Assoziation zu einem Thema hervor, das sie wenig differenziert in ihr Bewußtsein aufnehmen: Überlegungen zur Vertreibung der Deutschen. Das Urteil lautet: alles Revanchisten, verknöcherte Rechtsaußen. Leider läßt das Auftreten der Vertriebenenfunktionäre in der Öffentlichkeit oft auch kaum eine andere Ansicht zu – aber dem interessanten und facettenreichen Thema der deutsch-tschechischen Beziehungen tut man unrecht, wenn man es sich von den Vertriebenenverbänden verleiden läßt.

Mit „Tschechen und Deutsche. Historische Tabus“, herausgegeben von der Prager Stiftung Bernard Bolzano und der Münchner Ackermann-Gemeinde, die sich beide für Aufgeschlossenheit und Völkerverständigung einsetzen, gibt es nun ein Buch, das ein differenziertes Bild anbietet. Es enthält eine Sammlung von 30 Beiträgen unterschiedlichster, teils hochkarätiger Autoren, vorgetragen auf einer Konferenz in Jihlava (Iglau), im Herbst letzten Jahres.

Da ist der hervorragende Beitrag Peter Bechers, dessen Name für konstruktive Dialoge und Kontakte zwischen Tschechen und Deutschen steht. Becher, Sohn des in den sechziger und siebziger Jahren berühmt-berüchtigten Vertriebenenfunktionärs und Einpeitschers Walter Becher, konstatiert, daß es keine nachwachsende Generation von Sudetendeutschen mehr gibt, die sich für sudetendeutsche Fragen interessiere. „Dieser Umstand wird von den Vertriebenen nachhaltig tabuisiert“, schreibt er. „Jedes Jahr zu Pfingsten demonstrieren sie mit einer numerisch ständig sinkenden, optisch jedoch anhaltend großen Schar, daß ihr Anliegen nach wie vor existiert. Sie demonstrieren dies den deutschen und tschechischen Medien, noch mehr aber sich selbst. Der Sudetendeutsche Tag erfüllt und bestätigt Wünsche und Vorurteile gleich auf dreifache Weise. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft braucht ihn, um sich zu bestätigen, daß sie noch eine Volksgruppe repräsentiert, die Tschechen brauchen ihn, um sich zu bestätigen, daß die Sudetendeutschen der aggressive und zugleich raffinierte Hebel deutscher Hegemonieansprüche sind, und die Bundesdeutschen brauchen ihn, um ihr Vorurteil zu bestätigen, daß die Vertriebenen nach wie vor weder politisch ernst zu nehmen sind noch kulturell etwas zu bieten haben.“

Daß nicht nur Deutsche vertrieben wurden, sondern 1938 hauptsächlich Tschechen und Juden, stellt Jaroslav Macek in „Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet 1938“ dar. Einen von der tschechischen Geschichtsschreibung geschaffenen weißen Fleck, das „Massaker von Aussig“ vom Juli 1945, dem viele Deutsche zum Opfer fielen, beleuchtet Vladimir Kaiser mit neuen Aspekten. Sehr persönlich sind auch die Erinnerungen „Aus der Brünner deutschen Antifaschistenszene“ von Dora Müller.

Und aufrüttelnd ist auch der Beitrag von Helena Krejčová, die jüdische, tschechische und deutsche Vorfahren hat. In ihrem Aufsatz „Lücken und Tabus in der neueren deutsch-tschechischen Geschichte: Die Juden“ hat sie die Brände von jüdischen Einrichtungen zu Beginn des Protektorates Böhmen und Mähren im März 1939 chronologisch aufgeführt. Allein von Ende März bis Mitte Juni brannten zwölf Synagogen. Sie resümiert auch die eigene Schuld und das Schweigen darüber: „Tatsache ist, daß wir zugelassen haben oder gezwungen waren zuzulassen, daß man die tschechischen Juden liquidierte, welche hier mit uns 1.000 Jahre zusammenlebten.“

Historischen Ursachen für die spätere katastrophale Entwicklung geht unter anderem der Beitrag von Jaroslav Valenta, „Der Bruch zwischen Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern im Jahre 1918“, nach. Hätte das Zusammenleben der Tschechen und Deutschen, wie ab 1918 versucht, in einem Staat langfristig funktionieren können? Valenta zweifelt daran, denn die Loyalität der Deutschen zum tschechischen Staat wäre die Grundvoraussetzung dafür gewesen. Diese Loyalität scheint auch heute noch zu fehlen, und dies macht seinen Beitrag so aktuell. Denn unglaubwürdig erscheinen die, die seit Jahren unermüdlich für eine Rückkehr kämpfen, jedoch zurückschrecken vor der Möglichkeit, die ihnen der tschechische Staat eröffnet: der Rückgabe von Grund und Boden unter der Bedingung, daß der ehemalige Besitzer die tschechische Staatsangehörigkeit annimmt.

Dieses eben erschienene Buch ermöglicht es, die Vielfalt der tschechisch-deutschen Nachbarschaft zu erkennen. Tiefpunkte finden sich aber auch hier, insofern ist es auch ein getreues Abbild der Realtität: Kaum der Vorurteile entledigt, wird einem schwarz vor Augen, wenn man die Sätze von Rudolf Hilf vom „Münchener Internationalen Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus“ liest. Die Verfolgung der Juden durch Deutsche und ihre Kollaborateuren setzt er begrifflich gleich mit der Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen. „Was 1945 und 1946 geschah, d. h. der ,odsun‘, der Abschub und nach unserer Auffassung [...], die Vertreibung der drei Millionen Sudetendeutschen, hatte ganz offenkundig zum Ziel, daß es nie mehr ein Problem der Deutschen in den Böhmischen Ländern geben solle. Es war in diesem Sinne ein Genozid, der Völkermord, der grundsätzlich so definiert wird, daß eine geschichtlich gewachsene Menschengruppe ein für allemal aus der Geschichte eliminiert werden soll.“

Und wünschen würde sich die Rezensentin nach der Lektüre, daß das schon oft monierte Wort „sudetendeutsch“ nur noch in historischem Zusammenhang verwendet würde. Es tauchte zwar bereits um die Jahrhundertwende auf, wurde jedoch erst durch die „Sudetendeutsche Heimatfront“ des Konrad Henlein, der die Heim-ins-Reich-Parole ausgab, populär. Präzise ist der Begriff ohnehin nicht, die Slowakeideutschen haben mit dem Gebirgszug Sudenten soviel zu tun wie ein Ostfriese mit der Holsteinischen Schweiz. Mareile Ahrndt

Češi a Němci: „Historická tabu / Tschechen und Deutsche. Historische Tabus“. Tschechisch und deutsch. Hrsg.: Stiftung Bernard Bolzano und Ackermann-Gemeinde, Prag 1995, 349 S., 24 DM

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