■ Mosche Zuckermann über Israel und den Holocaust: „Es hat keine Aufarbeitung gegeben“
Der Israeli Mosche Zuckermann (46) lebte von 1960 bis 1970 in Deutschland und ist heute Dozent für Geschichte und Philosophie an der Unversität von Tel Aviv. 1994 veröffentlichte er sein Buch „Shoah ba Cheder ha-Atum“ (Die Shoah im gasdichten Raum).
taz: Herr Zuckermann, Sie gehören zu einer Reihe von Historikern, die sich in den vergangenen Jahren mit Tabus der israelischen Gesellschaft auseinandergesetzt haben. Warum findet diese Auseinandersetzung gerade jetzt statt?
Mosche Zuckermann: Es gibt zwei Gründe. Der eine hat mit der konkreten politischen Situation zu tun, mit der Intifada und der Ausweglosigkeit der israelischen Okkupation. Wir befinden uns in einer neuen Etappe unserer Geschichte, in der sogenannten postzionistischen Phase. Der Zionismus in seinen alten Werten und alten Strukturen ist zusammengebrochen. Der zweite Grund hängt damit zusammen, daß die Holocaust-Generation in den nächsten Jahren „aussterben“ wird. Das führt zu einem verstärkten Kampf um die kollektive Erinnerung.
Sie beschäftigen sich vorrangig mit den Tabus, die sich um den Holocaust ranken und den damit verbundenen Traumata der jüdisch-israelischen Gesellschaft. Was sind das für Traumata?
Sie hängen zum einen mit der langen Verfolgungsgeschichte des Judentums zusammen. Und zwar nicht nur die des 20. Jahrhunderts, sondern die gesamte Diaspora-Geschichte als Verfolgungsgeschichte. Zum anderen haben sie ihre Ursache im Holocaust selbst. Schließlich hängen sie mit der israelischen Situation zusammen, mit der Tatsache, daß Israel in einen permanenten, gewalttätigen Konflikt verwickelt ist. Dies sind gleichzeitig die drei Ursachen für die Angst in Israel.
Mich beschäftigt die Art und Weise, wie diese Angst instrumentalisiert wird, und zwar so, daß sie Bestandteil der israelisch-zionistischen Ideologie wird. Daß sie Bestandteil des israelischen Selbstverständnisses und als Mittel zur Gegenwehr eingesetzt wird. Die Leidtragenden sind die Araber, auch die israelischen Araber, besonders aber die Palästinenser in den israelisch besetzten Gebieten.
Sie sagen, die politische Situation im Land begünstige Angst. Ist diese Angst als eine Art Warnsignal in bedrohlicher Umgebung für den einzelnen nicht hilfreich?
Natürlich. Wenn in Tel Aviv Scud-Raketen landen, wie ich das selbst erlebt habe, oder ein Autobus explodiert, dann ist das alles andere als angenehm. Die Frage ist nur, warum die konkrete Situation nicht auf ihre politischen und historischen Ursachen hin untersucht wird, sondern eben als Angstmoment perpetuiert wird. Man durchschaut gar nicht mehr die Realität, sondern hat nur noch Angst – ohne zu fragen, woher diese Angst kommt, woher es kommt, daß wir nach 40 Jahren immer noch in so einer Situation gefangen sind.
Sie sagen, das hat mit der Erinnerung an den Holocaust zu tun, genauer gesagt: mit seiner Instrumentalisierung. Inwiefern?
In der israelischen politischen Kultur hat man sehr frühzeitig angefangen, den Holocaust politisch zu instrumentalisieren. Man war nicht fähig, sich mit den Holocaust- Überlebenden zu konfrontieren. Der sich neu konstituierende Staat, der den „neuen Juden“ schaffen und die Diaspora negieren wollte, konnte die Momente der totalen Machtlosigkeit, der Ohnmacht der Überlebenden nicht akzeptieren. So haben die Holocaust-Überlebenden in Israel den Holocaust eigentlich ignoriert. Außerdem ist der Holocaust privat und öffentlich auf unterschiedliche Art wahrgenommen worden. Vom Staat wurde das sehr frühzeitig gelenkt. Der Holocaust wurde zur Neukonstituierung der israelischen Gesellschaft instrumentalisiert. Da hieß es: Wir brauchen die Wiedergutmachung, wir brauchen den politischen Beistand, wir brauchen den Einstieg nach Europa. Das einzige antideutsche Ressentiment, das in Israel übriggeblieben ist, ist das Verbot, öffentlich Richard Wagner zu spielen. Es hat von Anfang an eine öffentliche „Normalisierung“ gegeben, die natürlich nie zur Normalität geführt hat. Es hat keine wirkliche Aufarbeitung des Holocaust stattgefunden.
Wollen Sie sagen, daß das Wesen des Holocaust in Israel nicht verstanden wird?
So ist es. Die Situation der Ohnmacht im Prozeß des industriell betriebenen, administrativ vollzogenen und bürokratisch geleiteten Massenmordes ist in Israel nie wirklich thematisiert worden. Nehmen Sie die Situation, als damals im Eichmann-Prozeß dieser eine Zeuge vor Eichmann zusammengebrochen ist und eine Art Wiederholung der Auschwitz-Situation vollzogen hat – als Überlebender, aber auch als jemand, der die Inkarnation des Massenmörders vor sich hatte. Das Opfer und der Massenmörder begegneten sich plötzlich. Eichmann, der gar nicht verstand, was er „falsch“ gemacht haben soll, und der Zeuge, der im Grunde genommen nur zusammenbrechen konnte. Das hat die israelische Öffentlichkeit damals nicht begriffen. Sie konnte nicht verstehen, warum dieser Jude gerade in einer Situation zusammenbrach, in der der neue jüdische Staat dem Massenmörder den Prozeß machte. Wie paßte das zum Selbstverständnis des „aufrechten Ganges des neuen Juden“?
Wenn aber der Holocaust vom Standpunkt des Opfers oder des Verfolgten ein Moment der Ohnmacht ist, muß der Holocaust von einem Kollektiv, das auf dem Gedächtnis der Opfer aufbaut, dem in irgendeiner Weise Rechnung tragen. Indem der Holocaust jedoch instrumentalisiert wird, um neue Opfer zu schaffen – wenn damit beispielsweise die israelische Besatzungspolitik legitimiert wird –, beschädigt man gerade hier im Judenstaat das Wesen des Holocaust.
Ist es denn zwangsläufig, daß neue Opfer produziert werden?
Ich beziehe mich auf einen Artikel von Yehuda Elkana aus dem Jahre 1988. Er vertritt darin eine These, daß aus Auschwitz zwei „Völker“ hervorgegangen sind. Eine Minorität, die sagt „das soll nie wieder passieren. Dieser Genozid darf sich nie wieder, nirgends auf der Welt wiederholen“, steht einer Majorität gegenüber, die sagt, „das soll uns nie wieder passieren“. Letzteres heißt, daß man den Holocaust partikular und nicht universalistisch für sich in Anspruch nimmt, nach dem Motto: Wenn es uns nicht wieder passieren soll, ist alles legitim, damit es uns nicht wieder passiert.
Würde es Sinn machen, diese Auseinandersetzung irgendwann auch zwischen Israelis und Deutschen zu führen?
Ich bin nicht sehr überzeugt davon, mein Buch ins Deutsche übersetzen zu lassen. Ich hätte Angst davor, daß es für deutsche Zwecke instrumentalisiert werden würde. Die Art und Weise, wie der Film „Schindlers Liste“ in Deutschland aufgenommen worden ist, hat mich nachdenklich gemacht. Es gibt offenbar Bedürfnisse, die nicht besonders aufklärerisch sind. Aber irgendwann muß diese Auseinandersetzung auch zwischen Deutschen und Israelis geführt werden.
Wann ist die Zeit dafür gekommen?
Ich weiß es nicht. Interview: Kirsten Maas
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