: Berliner Physiognomik
Berlin ist die einzige unter den deutschen Städten, die groß genug ist, damit in ihrem Bild plötzlich die Menschenwelt als Natur erscheint, zu der sich der Betrachter wie ein Expeditionsreisender verhalten kann. Der in Berlin geborene Bodo Morshäuser ist solch ein Reisender. Eine Szene dieses Buchs erinnert an den „Zauberer von Oz“. Wie dort die kleine Dorothy von einem Wirbelsturm aus Kansas in ein anderes, verwunschenes Land entführt wird, so erhebt sich hier der Autor mittels eines Sandsturms über seine Stadt – ist es noch die gleiche, in der er aufgewachsen ist? Den Sandsturm hat er als kleiner Junge wirklich erlebt, als er mit seinem Roller von der Potsdamer Straße her in Richtung Tiergarten unterwegs war. Im Nu war die Stadt hinter dem aufgewirbelten Vorhang versunken, nichts mehr zu sehen und zu hören außer dem Sturm. Der kleine Junge setzt sich auf den Boden und wartet ab, mitten in der Stadt verlassen wie in einer Wüste.
So könnte ein Märchen beginnen, aber Bodo Morshäuser geht es mehr um „gezielte Blicke“ zurück auf sein Berlin, das heute fast so schwer zu erkennen ist wie damals die Stadt hinter dem Sturm. Indem er sich in diese Situation zurückversetzt, kommen die Erinnerungen zurück – an die unheimlichen Kriegskrüppel (Menschenfresser“ nennen die Kinder sie), an die Turnübungen an der Teppichklopfstange oder an das kindliche Pseudo-Englisch: „Es machte uns nichts aus, daß alles erfunden war. Ging ich mit Rüdiger dort, wo Menschen waren, umher, taten wir immer öfter so, als sprächen wir englisch; wie Kinder es in allen Jahrzehnten zu allen Jahreszeiten tun – wenn der Wille das Wissen überflügelt und verrenkte Äußerungen hervorbringt, übertrieben, mutig und unverschämt; gleichgültig dagegen, durchschaut zu werden.“
Das Medium dieser Erinnerungen ist die Straße, die Morshäuser „seine“ nennt – die Potsdamer Straße in Berlin. Wie in der Straßenprosa der großen Vorgänger, die in den zwanziger Jahren schon zu einem eigenen feuilletonistischen Subgenre entwickelt wurde, überblendet Morshäuser Gegenwart und Vergangenheit zu einem Berliner Denkbild.
So beschreibt Morshäuser die Begegnung mit einer Junkiefrau: „Obwohl ich hinter ihr und unbeachtet stehe, geht sie zielsicher auf mich zu, lächelt aus einem zerstochenen Gesicht mit zahnlosem Mund und zeigt auf ihre Zigarette, die zwar zwischen ihren Lippen klemmt, doch zusätzlich von zwei Fingern gehalten wird. Sie beugt sich zu meiner Streichholzflamme vor. Diese lodert an dem Zigarettenende, aber die Frau saugt nicht am Mundstück. Die Zigarette rutscht ihr aus den Lippen. Sie hält sie mit den Fingern. Sie ist innerhalb der einen Sekunde des Feuergebens und -nehmens erstarrt und ist längst anderswo; sie fährt eine Hand zur Seite aus, sie knickt um die Knie herum in einer absonderlichen Drehung ein, sie schrumpft dahin und tagträumt zwischen Stehen und Fallen. Ich stecke die Streichhölzer weg und habe Mühe, einen Schritt fort von ihr zu tun. Sie könnte dann das Gleichgeweicht verlieren und hinkippen.“ Morshäusers Beobachtungen der verwunschenen Junkies in der U- Bahn, die Beschreibung der Veränderung der Berliner Stimme, der „angeblichen Schnauze mit Herz“, der Blickverhältnisse auf den Boulevards sind Fragmente einer neuen Berliner Physiognomik. Davon möchte man gerne mehr lesen.
Bodo Morshäuser: „Gezielte Blicke“. Transit Verlag, 80 Seiten, geb., 24 DM.
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