■ Das Verfassungsgericht und das Knacken in der Leitung
: Lies das Grundgesetz laut!

„Das Grundgesetz ist ein gutes Gesetz. / Lies es laut, / wenn es in der Leitung knackt!“ Es hat schon nicht mehr geknackt, als Heinz Großmann (heute Redakteur beim Hessischen Rundfunk) diesen Dreizeiler schrieb, den ich (mit anderen) während der „Telefon-Affäre“ 1963 in Frankfurter Telefonzellen klebte. Wenn heute der BND seine elektronische Fernmeldeaufklärung betreibt und sich mit Suchworten in unsere Auslandsgespräche einschaltet, geschieht das noch verborgener. Es beruhigt, wenn wenigstens die Richter des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz noch lesen und die verfassungswidrige Weitergabe von Daten des BND durch eine einstweilige Anordnung vorerst abstellen. Doch es reicht auf die Dauer nicht aus, wenn nur noch die Richter auf das Grundgesetz achten. Sonst wird am Ende – wie so oft – das Verfassungswidrige verfassungsgemäß gemacht und nicht die Praxis dem Gesetz unterworfen.

Der vorgestrige Beschluß der Karlsruher Richter mahnt die Bundesregierung, die parlamentarischen Aufsichtsgremien über die Geheimdienste und die Parteien im Deutschen Bundestag, die vor einem Jahr in einer durch Plutonium aufgeheizten Kampagne dem Sicherheitsgesetz der Bundesregierung zugestimmt haben, das Grundgesetz wieder ernst zu nehmen, wenn die Substanz der Grundrechte nicht zur bloßen Spielmasse werden soll. Die Kritik des Bundesverfassungsgerichts betrifft aber auch die großen Medien und die kritische Öffentlichkeit. Vor der gesetzlichen Regelung von Abhörbefugnissen des BND gab es in keiner Magazinsendung oder Talkshow einen Hinweis auf die Problematik der „elektronischen Fernaufklärung“. Der Spiegel brachte (vom BND gefüttert) zwar Fakten, aber auch für ihn blieb (anders als früher) das Grundgesetz in weiter Ferne. Die Berichte kritischerer Zeitungen kamen gegen dieses Verschweigen nicht an. Viele haben die Fernmeldeaufklärung des BND mit dem „großen Lauschangriff“ verwechselt.

Das Bundesverfassungsgericht eröffnet nun die Chance, erneut zu bedenken, in welchem Umfang die im Grundgesetz realisierten Menschenrechte gerade den im geheimen operierenden Exekutivorganen Grenzen setzen müssen. Menschenrechte verlieren ihre Kraft, wenn Menschen sie nicht mehr als Garantie ihrer Freiheit verstehen. Die Zivilgesellschaft bleibt ein Traum, wenn die Verfassung diese nicht mehr sichert und ihre Anhänger später nur noch sagen können: Das Grundgesetz war ein gutes Gesetz. Jürgen Seifert

Bürgerrechtler, lehrt als Jurist und Politologe an der Universität Hannover