piwik no script img

Schätzungsweise 20.000 Vertriebene aus Srebrenica lagern in Tuzla, fast ausnahmslos Frauen und Kinder. Die Männer wurden festgenommen, viele junge Mädchen sind verschwunden. Die Flüchtlinge berichten über Greueltaten. Aus Tuzla Erich Rathfelder

„Ich habe nur noch ihre Schreie gehört“

Unerbittlich heiß brennt die Sonne auf die Menschen, erschöpft liegen sie auf den Wiesen. Manche Frauen haben Äste zu einem Sonnenschutz zusammengesteckt, Kinder greinen, alte Frauen und greisenhafte Männer dösen zwischen den Decken und Bündeln, den letzten Habseligkeiten, die ihnen aus ihrem früheren Leben in Srebrenica geblieben sind.

Sind es 10.000, 20.000 oder doch weniger – niemand hier vermag die Menschenmassen zu zählen, die am Rande des Militärflughafens von Tuzla zu lagern gezwungen sind. Überall der Gestank menschlicher Exkremente, Toiletten gibt es nicht. Vor den Wassercontainern bilden sich Schlangen. Und auch vor den Körben mit Brot, die zwischen Müll und Unrat abgeladen werden. Wasser und Brot, sonst nichts – die Flüchtlinge aus Srebrenica sind auf die elementarsten Dinge menschlicher Existenz zurückgeworfen.

Noch steht die Angst in den Gesichtern geschrieben. Viele der Frauen liegen sich in den Armen und weinen. Die Kindergärtnerin Sanida I., 23 Jahre alt, hält ihre beiden Kinder fest umklammert: „Als die serbischen Truppen nach Srebrenica einrückten, packte ich die beiden Kinder. Auf den Leiterwagen hatten wir noch Kleider und unsere Wertsachen gepackt und sind am letzten Dienstag in einem Treck nach Norden, nach Potočari gezogen. Dabei waren auch noch meine 13 und 15 Jahre alten Schwestern, die Mutter und meine Schwiegereltern.“ Ihren Mann habe sie schon in Srebrenica aus den Augen verloren, „er versuchte ja noch, die Serben aufzuhalten“. Die 20- und 18jährigen Brüder seien einige Stunden später zu ihnen gestoßen. „Von Vater fehlte jede Spur.“

Dann kamen sie auch nach Potočari. „Sie haben sich auf meine Brüder gestürzt, sie geschlagen und abgeführt.“ Sanida stockt. Sie kann einige Augenblicke nicht mehr weiterreden, beginnt zu weinen. „Wir lagerten im Freien, so wie hier. Immer wieder kamen Soldaten und holten die restlichen Männer ab. Auch den Schwiegervater.“ Nur die Alten und Kranken durften bleiben.

„Die Mädchen wurden aus den Bussen geholt ...“

Als es dann am Donnerstag hieß, die Frauen und Kinder würden in Bussen nach Tuzla gebracht, habe sie erst einmal Erleichterung verspürt. „Ich hatte solche Angst wegen der Kinder.“ In der Nacht zum Freitag dann war es soweit. „Sie durchsuchten das gesamte Gepäck, sie nahmen das Geld – wir hatten noch 1.500 Mark – und unseren gesamten Schmuck.“ Die Lebensversicherung bosnischer Familien. „Endlich fuhren wir los. Nach einigen Kilometern, in Kranjić, wurden wir angehalten. Einige uniformierte Männer kamen herein.“ Sanida fängt wieder an zu weinen. „Sie haben ihre beiden Schwestern herausgeholt“, flüstert die Schwiegermutter. Und etwas später: „Bitte nennen sie ihre Namen nicht. Sonst werden die Männer und die Mädchen noch mehr bestraft.“

Die Schicksale der einzelnen verweben sich zu einem kollektiven Schrecken. Eine andere Frau, 35, Mutter dreier Kinder, kam 1992 als Flüchtling von Vlasenica nach Srebrenica. Ihren Mann hatte sie damals verloren, in den letzten Tagen noch die beiden Brüder und den Vater. „Sie haben meinen Sohn geschlagen und abgeführt, der Junge ist doch erst 13 Jahre alt.“ Eigentlich sollten nur die Männer zwischen 16 und 60 in das Lager von Bratunac, nördlich von Srebrenica, gebracht werden. „Es wurden fast alle mitgenommen, auch meinen Onkel, der ist 68, haben sie abgeführt“, erklärt eine dritte. Der Kreis der Frauen, die erzählen wollen, wird immer größer. Alles Geld und allen Schmuck hätten die Soldaten ihnen vor der Abfahrt geraubt. Und die Mädchen? Sie senken die Köpfe. „Viele Mädchen zwischen 14 und 20 Jahren wurden aus den Bussen geholt.“

Auf dem Rollfeld von Tuzla stehen 700 Zelte

Muhira Z. berichtet von dem Tod und der Verhaftung ihrer gesamten Familie, 13 Menschen. Ihr Sohn wurde vor ihren Augen „mit dem Messer geschlachtet“. Ihre Töchter seien verschwunden, die beiden Kleinkinder der jüngsten ebenfalls. „Sie sind wahrscheinlich tot, sie haben sie ermordet, ich habe nur noch ihre Schreie gehört.“ Sie sei 60 Jahre alt und jetzt ganz allein. Sie schluchzt. „Da muß doch etwas getan werden, ihr Leute aus dem Westen, helft uns doch“, ruft ein grauhaariger Mann, der ebenfalls die meisten Mitglieder seiner Familie verloren hat. „Früher, vor dem Krieg, da hatten wir ein Geschäft in Srebrenica, ein Haus, uns ging es gut, wir waren glücklich. Jetzt haben sie meines und die Nachbarhäuser gesprengt.“

An einem Stand mit Medikamenten steht Heike Jung, eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „Cap Anamur“. Gleich als die ersten Vertriebenen kamen, hat sie wie andere Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisationen die Ärmel hochgekrempelt und geholfen, so gut es ging. Seit 48 Stunden hätten sie und ihre Kollegen nicht mehr geschlafen. Für 1.700 Menschen hätten sie Essen herangeschafft, Babynahrung, einige Hygieneartikel auch. „Mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge hier sind Kinder“, sagt sie, über 95 Prozent der Erwachsenen Frauen. Viele Bewohner Tuzlas kämen hierher, um nach Bekannten und Verwandten Ausschau zu halten. „Eine Frau, die seit zwei Jahren in unserem Flüchtlingsprojekt betreut wird und damals aus der Region Srebrenica fliehen mußte, hat tatsächlich ihre Mutter und ihre Schwester wiedergefunden.“

Wieder bildet sich eine Schlange. Vor dem mit Nato- Draht abgesperrten Eingang in den ehemaligen Militärflughafen entsteht sogar Gedränge. Auf dem weitläufigen Gelände des Flughafens sind UNO-Truppen stationiert, vor allem Skandinavier und Pakistani. Norwegische Blauhelme lassen eine Gruppe von Flüchtlingen auf das Gelände und auf einen Lastwagen steigen. Nach einer kurzen Fahrt, vorbei an den Kasernen, die vor dem Krieg der Luftwaffe der jugoslawischen Volksarmee gehörten, ist das Rollfeld erreicht. Entlang der über drei Kilometer langen Piste ist eine riesige Zeltstadt aufgebaut. „Die 700 Zelte haben die Pakistanis über Nacht hierhergezaubert“, sagt anerkennend ein norwegischer Soldat. An den Rändern des Rollfeldes, wo Dutzende von Wassertanks aufgestellt sind, haben die 5.400 Menschen, die hier Zuflucht fanden, zum ersten Mal seit ihrer Vertreibung die Gelegenheit, sich zu waschen. „Und können ein bißchen für sich sein“, wie eine schwedische Helferin anmerkt.

Im Rathaus von Tuzla herrscht hektische Aktivität. Eine Kommissionssitzung jagt die nächste. Denn Srebrenica ist Teil des Regierungsbezirks Tuzla und damit der Region verwaltungstechnisch zugeordnet. Immer noch wisse man nichts Genaues über den Aufenthaltsort der schätzungsweise 4.000 gefangenen Jungen und Männer, sagt ein Kommissionsmitglied. Und Kleljia Balta, die übermüdete Koordinatorin für Internationale Beziehungen, verrät, daß nun endlich das Rote Kreuz Nachforschungen anstellen dürfe.

Bürgermeister Selim Beslagić tupft sich den Schweiß von der Stirn. Es stellten sich für die Stadt jetzt unlösbare Probleme. „Wir müssen mindestens 10.000 Vertriebene aufnehmen. Wir haben bei einer ursprünglichen Bevölkerungszahl von 110.000 in den letzten Jahren schon über 56.000 Flüchtlinge aufgenommen. Wo sollen wir die Leute unterbringen, wie versorgen? Es gibt ja angesichts der Blockade unserer Industrie nur wenig Arbeit, nur wenig Geld, nur wenige Möglichkeiten.“ Jetzt müßten die internationalen Hilfsorganisationen seiner Stadt tatkräftig zur Seite stehen.

Vertriebene werden auf die Region verteilt

Auch andere Kommunen der Region bereiten sich auf den Flüchtlingsstrom vor. In der 40.000 Menschen zählenden Gemeinde Lukavac werden es vermutlich 3.000, in der an der Frontlinie liegenden Stadt Gradačac 2.000, in Kladanj 500, in Gracanić 1.500 sein. Wie schon bei der ersten Flüchtlingswelle 1992 werden Schulen und Turnhallen zu Flüchtlingslagern umgewandelt. „Wir haben in diesem Frühjahr dank der Unterstützung des Schweizer Katastrophenhilfekorps über 40 Schulen renovieren können. Die Vertriebenen müssen in die alten Schulen“, klagen die Mitglieder der Flüchtlingskommission des Bezirks.

Auf dem Platz, wo am 23. Mai eine Granate in eine Gruppe Jugendlicher schlug und über 70 Menschen tötete, bleiben die Passanten stehen. Sie legen vor der Mauer, wo die Todesanzeigen angeklebt sind, Blumen nieder. „Womit haben wir dieses Unglück nur verdient?“ Eine Frau, Wissenschaftlerin an einem der Institute des Chemiekombinats Sadoso, senkt den Kopf. „Wir wissen doch nun sicher, daß die Katastrophe in Srebrenica von der UNO-Führung mitverschuldet ist.“ Der niederländische Kommandant habe doch schon vier Tage vor dem Sturm auf die Stadt Hilfe angefordert. „Warum wurde nicht reagiert, es war doch klar, daß es in Srebrenica zu einem Angriff kommt.“ Der Weltsicherheitsrat stelle nur Forderungen auf, doch getan werde nichts. „Žepa ist auch schon aufgegeben. Srebrenica wird sich dort wiederholen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen