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■ Warum in Bosnien Europas Sache auf dem Spiel stehtDie Gefahr der Selbstzerstörung

Unsere Soldaten reagierten schnell auf den serbischen Angriff und gingen in den Schutzkeller hinunter. (Ein französischer Offizier in Sarajevo gegenüber CNN)

In Bosnien entscheidet sich nicht nur das Schicksal Bosniens, sondern auch das Schicksal Europas. Diese Behauptung muß man ganz wörtlich und ganz technisch verstehen. Das heißt, eine Gesellschaft, ihre Strukturen und Instrumente (wie der Staat sie darstellt) funktioniert so gut, wie sie ihre grundlegenden Prinzipien achtet, wie sie diese Prinzipien, idem sie sie anwendet, zu verwirklichen sucht. In Bosnien werden heute gerade die grundlegenden Prinzipien der modernen europäischen Gesellschaft verteidigt. Jene gleichen Prinzipien, die von der europäischen Bosnienpolitik nicht nur gänzlich verraten, sondern teils verhöhnt, teils schwer kompromittiert worden sind. Bei europäischer Politik denke ich an die Politik der EU, vor allem aber an die einstigen Großmächte England und Frankreich, die die Politik der EG nach außen entscheidend bestimmen.

Vereinfacht, sähe das folgendermaßen aus. Ein grundlegendes Prinzip der modernen europäischen Gesellschaft ist der Individualismus, aus diesem folgen, als abgeleitete, aber unumgänglich wichtige Prinzipien, die bürgerliche Gesellschaft (beziehungsweise der Staat von Bürgern) und die Verantwortung für sich selbst. Individualismus bedeutet, daß ein einzelner volljähriger Mensch nicht lediglich auf das reine Mitglied eines Kollektives reduziert werden kann, egal, ob dieses Kollektiv nun eine Glaubensgemeinschaft, eine Nation, eine Partei oder sonst etwas ist. Bürgerliche Gesellschaft bedeutet eine geordnete Gemeinschaft von solchen Individuen, die eben deshalb in der Gemeinschaft zusammengekommen sind, weil sie die Prinzipien ihrer Gesellschaft achten. Die bürgerliche Gesellschaft bedeutet eine Machtstruktur, die auf dem Individuum (dem Bürger) gründet, nicht aber auf dem Volke, der Nation oder anderen mystischen Werten der Philosophie von Blut und Boden. Verantwortung für sich selbst bedeutet vielerlei, unter anderem aber das Recht auf und die Pflicht zur Selbstverteidigung, die John Stuart Mill besonders betont: Sie bedeutet außerdem das Recht auf und die Pflicht zum Widerstand gegen die Despotie, deren ausgeprägteste Eigenschaft es ist, uns die Verantwortung zu nehmen.

Nicht eines dieser Prinzipien der europäischen Kultur und der europäischen Gesellschaft wird von der europäischen Bosnienpolitik geachtet, im Gegenteil, sie werden verhöhnt. Für die europäische Politik sind wir keine Individuen, sind wir nicht einmal Bürger von Bosnien-Herzegowina, sondern wir sind reine Kollektivitäten – lediglich Serben, Kroaten und Muslime (dieser dritten Gemeinschaft wird selbst das Recht auf den Namen Bosniaken verwehrt, vielmehr werden sie auf eine Glaubensgemeinschaft reduziert). Die europäische Politik willigt nicht ein, die Tatsache zu akzeptieren, daß für Bosnien-Herzegowina die einzige technisch ausführbare Lösung die bürgerliche Gesellschaft ist, willigt nicht ein, die Tatsache zu akzeptieren, daß 500.000 Serben auf einem Territorium leben, „das von Regierungskräften kontrolliert wird“, und daß diese den Wunsch haben, Bürger von Bosnien-Herzegowina zu sein und vielleicht auch Individuen, wenn die europäische Politik es ihnen gestattet. Das einzige Kollektiv in Bosnien, das die europäische Politik anzuerkennen ausschlägt, ist das zahlenstärkste – das Kollektiv der Bürger.

Schon das vierte Jahr wird in Bosnien das Prinzip der Gleichberechtigung der Individuen (der Bürger) blutig verhöhnt – im Namen eines Prinzips des Volkes, des Blutes und des Bodens. 200.000 Menschen wurden umgebracht, nur weil sie dem muslimischen Glauben angehörten, Zehntausende, nur weil sie Katholiken waren, Zehntausende, nur weil sie keine ausreichend guten Serben waren (sie haben ihre Person nicht auf die Zugehörigkeit zur serbischen Nation reduziert). Die europäischen Politiker sehen gleichgültig zu. Tun sie etwas, dann helfen sie, die begonnene Arbeit so rasch wie möglich zu Ende zu führen.

Einer der Beschlüsse im Zusammenhang mit Bosnien, der von Europa konsequent durchgeführt wird, ist das Verbot des Waffenverkaufs an die bosnische Regierung. Damit ist den Bürgern von Bosnien-Herzegowina das Recht auf Selbstverteidigung genommen worden, die Mill, wie schon erwähnt, als Grundlage der freien Gesellschaft betont. Damit ist jenen Menschen auch die Verantwortung genommen und somit auch die Verantwortung für sich selbst. Karl Popper sagt: „Die Despotie beraubt uns unserer menschlichen Verantwortung.“ Bedeutet dies, daß die europäische Bosnienpolitik despotisch ist? Ich zitiere lediglich. Resümieren wir:

1. Individualismus;

2. Gleichberechtigung der Personen;

3. Verantwortung für sich selbst;

4. Gesellschaft als geordnete Gemeinschaft von Personen, nicht als Emanation von Blut und Boden;

5. Staat als Instrument der bürgerlichen Gesellschaft.

Das sind die Prinzipien, welche von der europäischen Politik im Zusammenhang mit Bosnien verraten und schwer kompromittiert wurden. Wie würde Europa aussehen, wenn sich innerhalb seiner Gesellschaften eben diese Prinzipien nicht verwirklichen würden? Ein Prinzip ist primär, ursprünglich. Es ist grundsätzlich und besitzt die unangenehme Eigenschaft, am Fuß und auf der Spitze des Berges gleichermaßen zu gelten, in Frankreich wie in Bosnien.

Eine Gesellschaft, die die Prinzipien verrät, auf denen sie aufgebaut ist, bewegt sich entweder in Richtung Anarchie, wo das Wolfsgesetz herrscht, oder in Richtung Diktatur, in der die Macht nicht auf den die Gesellschaft prägenden Prinzipien ruht, sondern auf der Armee und der Polizei. Dabei darf man nicht vergessen, daß diktatorische Zustände auch dann möglich sind, wenn alle Strukturen der demokratischen Gesellschaften vorhanden sind und scheinbar funktionieren. Dies ist die Quelle meiner Angst. Und das Wesen meiner Frage: Ist Europa, wie wir es kennen und brauchen, möglich, nachdem dessen Machthaber so grob und so offensichtlich alle grundlegenden Prinzipien eben dieses Europa verraten haben? Eine Zeitlang werden die Strukturen der europäischen Gesellschaften nach dem Gesetz der Trägheit funktionieren, aber langfristig?

Im Namen welcher Prinzipien wird die französische Regierung von ihren Bürgern arabischer Herkunft morgen verlangen, Steuern zu zahlen, wenn ebendiese Regierung derart deutlich das Prinzip des Staates von Bürgern verraten und das Prinzip von Blut und Boden unterstützt hat? Im Namen welcher Prinzipien werden wir morgen zum Kampf gegen den Terrorismus aufrufen? Wenn ich es richtig verstanden habe, sind Terroristen jene, die einen Menschen umbringen, weil er Kapitalist ist, weil er kein Muslim ist oder weil er nicht genügend Kapitalist, Muslim ist. Und in Bosnien wird schon das vierte Jahr aus ebendiesen Gründen getötet. Ich sollte nicht wegen meiner literarischen Vorlieben getötet werden oder wegen dessen, was ich geschrieben habe, sondern nur, weil ich so heiße, wie ich heiße. Im Namen welcher Prinzipien werden die europäischen Mächte morgen von den Bürgern verlangen, selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen, einen Ehepartner zu finden oder sich selbst die Zähne zu putzen – wenn sie so öffentlich und vollkommen das Prinzip der Eigenverantwortung des einzelnen und des Kollektivs verraten haben?

Im Fall Bosnien haben die europäischen Mächte das Prinzip der Eigenverantwortung nicht nur verraten, sie haben es vielen einzelnen und einem Kollektiv direkt genommen. Sie nahmen den Menschen das Recht, sich zu verteidigen, versprachen, daß Europa sie verteidigen würde, riefen Schutzzonen aus und ließen es dann zu, daß die Menschen in jenen Schutzzonen umgebracht wurden wie Wild. Jene, die den Menschen Verantwortung nehmen, sind Despoten, sagt Popper. Despoten, die ihr Versprechen nicht erfüllen, sind lächerliche Despoten. Die aber sind, so sagt Camus, die gefährlichsten. Sie wissen, daß sie grotesk sind.

Mit welchem Recht werden die Regierungen in den westeuropäischen Staaten von den Bürgern verlangen, ihre Armeen zu finanzieren? Wie wird jemand glauben können, daß diese Armeen ihre verfassungsgemäßen Verpflichtungen erfüllen werden, nachdem er im Fernsehen gesehen hat, wie Soldaten seiner Eliteeinheiten gefesselt, herumgestoßen und erniedrigt werden? Ich glaube, daß die Posse der Geiselnahme französischer, englischer und anderer Soldaten eine weitere der Dummheiten europäischer Geheimpolitik ist, jedoch beunruhigt mich die Dummheit solcher Absprachen. Sie bedrohen ganz offensichtlich Europa. Wie lange ist Europa, wie wir es kennen, noch möglich? Es ist bedroht, denn in Bosnien sind alle grundlegenden Prinzipien der europäischen Gesellschaft in Gefahr. Wie ernst diese Bedrohung Europas ist, zeigt sich daran, daß einzig die fast unbewaffnete Armee der Republik Bosnien-Herzegowina es verteidigt. Sie verteidigt es zwar ohne moderne Waffen, dafür aber gegen die gesamte Welt. Dževad Karahasan

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